Braunschweig. Putzige Anekdoten, grausige Schocker: Der in Wolfenbüttel aufgewachsene Notfallmediziner Dr. Christoph Schenk las in Braunschweig aus seinem Buch.

Starker Typ. Starkes Thema. Dazu der Heimspiel-Faktor: Der Unfallchirurg, Notfallmediziner und Buchautor Dr. Christoph Schenk, Jahrgang 1965, ist in Wolfenbüttel aufgewachsen. Seine sehr gut besuchte Lesung am Donnerstagabend im Forum Medienhaus war einerseits ein voller Erfolg.

Und andererseits?

Nein, vor jedwedem Gemecker möchte ich erstmal meine Lieblingsgeschichte erwähnen. Schenk trägt ja (mit den datenschutzmäßig gebotenen Verfremdungen) seine markantesten Erlebnisse aus jahrzehntelanger Arbeit zusammen. Knapper Stil, eher lakonisch. Er ist ganz schön herumgekommen. Seine Skizzen zu den unzähligen Infarkt-, Schock-, Unfall- und Reanimationsdramen, die sich halt so abspielen, sind im Harz, in Salzgitter, aber auch im Schwäbischen, in der Schweiz und in Schleswig-Holstein verortet. Und beim Festival in Wacken geschah es also, beim Mächtigkeitsspringen der Heavy-Metal-Szene, dass ihm dieser Hüne unterkam. Handverletzung, ein Finger wohl. Der Hardcore-Riese war jedenfalls völlig fertig. Ballte die Faust, wollte die Wunde partout nicht zeigen, um die Amputation des Fingers zu verhindern. Millimeter für Millimeter arbeitete sich Schenk zum Ausgangspunkt der horriblen Szene vor, schaffte es, die Faust des Verzweifelten zu öffnen – und sah den kleinsten, geradezu schnuckeligsten Pikser, dessentwegen je ein Notarzt konsultiert wurde…

Grausamer Befehl der „Stimmen“

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: In ihrem anekdotischen Charakter und auch in ihrer gelungenen Pointenorientierung ist die Hünen-Schnurre etwas Besonderes in Schenks Sammlungen, aus denen er die Bücher „Viva la Reanimation!“ und „Blaulicht und Blutmond“ gemacht hat. Die meisten Geschichten sind ernster, zum Teil gruselig – am härtesten die Schweizer Story über eine Frau, die ihrem Mann tatsächlich die Haut abzogen hat, weil ihr das „Stimmen“ befohlen hatten. Leider kranken viele Geschichten jedoch daran, dass das Ende irritierend offen bleibt oder überhaupt ihr Fokus nicht klar wird. Schenk verdichtet, klar. Doch der schnodderige Stil (bei der Lesung ließ Schenk das Wort „Scheiße“ der gedruckten Fassung übrigens auch mal weg) wird generell zu weit getrieben und läuft dem an sich menschenfreundlichen Ansatz des Autors mitunter zuwider. Nein, es ist keine gute Idee, die Geschichte über einen tot aufgefundenen Treckerfahrer mit der vorurteilsplumpen Überschrift „Polnische Wirtschaft“ zu versehen, nur weil der Mann Pole ist. Nein, auch die Überschrift „Haste ma Feuer?“ bezüglich einer Frau, die sich manisch Verbrennungen zufügt, ist daneben – ganz davon abgesehen, dass Schenk, pardon, sowieso nicht der suggestivste Vorleser ist.

Die superprofessionellen Sanitäter

Aber das soll’s mit der Meckerei gewesen sein. Das Gute an Schenks Geschichten ist, dass der Arzt sich nicht heroisch verhalbgöttlich. Vom Wert der Teamarbeit mit superprofessionellen Rettungssanitätern ist viel die Rede. Auch Unsicherheiten spart Schenk nicht aus, die Angst vor eiligen Irrtümern oder Versäumnissen, überhaupt die Zweifel, den Stress und die Belastungen, die mit der Arbeit in Extremsituationen einhergehen. Wie hilft man psychisch Kranken, die diese Hilfe barsch zurückweisen? Wie geht man mit der Vergeblichkeit aller Bemühungen um den schwerst verunglückten Motorradfahrer um?

In einem nachdenklichen Gespräch mit Moderator Henning Noske wurden diese Ansätze vertieft. „Man braucht ein dickes Fell und ein stabilisierendes Umfeld“, sagte der Mediziner. Und dann war dieser Abend übrigens auch noch wirklich lehrreich. Drei Mitarbeiterinnen einer Erste-Hilfe-Schule in Bad Harzburg legten in der Pause Puppen auf die Bühne und animierten Zuschauerinnen und Zuschauer, sich in puncto Herzdruckmassage auf den neuesten Stand zu bringen. Man muss kräftiger drücken, als man zunächst denkt, das war hierbei die Erkenntnis. Und schneller, als man denkt: Hundertmal pro Minute. Doch Schenk wäre nicht Schenk, wenn er diese zunächst abstrakte Zahl nicht praxisnah erläutern würde. „Du weißt nicht, wie schnell hundertmal pro Minute ist? Sing im Kopf ,TNT‘ von AC/DC oder ,Dancing Queen‘ von Abba mit. Dann haste genau den richtigen Takt.“ Und eine der Mitarbeiterinnen brachte bezüglich der Frage nach dem richtigen Takt sogar noch einen dritten Hit ins Spiel, dessen Titel so schön passt zu all den dankenswerten, aufopferungsvollen und bewundernswerten Bemühungen von Retterinnen und Rettern aller Art. Er ist von den Bee Gees und heißt „Stayin‘ Alive“.