Braunschweig. Kiffen gegen die Angst: Rebecca W. ist sicher, mit Hanfblüten die passende Arznei für ihre psychische Erkrankung gefunden zu haben. Ein Porträt.

0,1 Gramm zeigt das Display der Elektrowaage an. Darauf: drei Krümel Cannabis, streng riechende, getrocknete Blütenstände weiblicher Hanfpflanzen. Geübt zerbröselt Rebecca W. das grüne Kraut auf dem Tabak, den sie auf einem langen Blättchen drapiert hat und rollt einen Joint. Zum Rauchen geht sie auf die Terrasse der geräumigen Wohnung in einem bürgerlichen Braunschweiger Viertel, in der sie, ihr Mann und die gemeinsame Tochter im Grundschulalter leben. Während sie tief inhaliert und kurz die Augen schließt, weichen Anspannungen aus ihrem Körper und ihren Gesichtszügen. Später am Abend, kurz vorm Zubettgehen, wird sie einen weiteren Joint rauchen. „Täglich abends 0,2 Gramm, inhalativ verabreicht, verteilt auf zwei Einzeldosen“, lautet die Dosierungsanleitung von ihrem Arzt. Sie kifft legal, auf Rezept. „Endlich“, sagt sie erleichtert. „Der Weg war alles andere als leicht.“

Rebecca W., die in einem pädagogischen Beruf mit Kindern arbeitet, heißt in Wirklichkeit anders. Aus Furcht vor beruflichen Schwierigkeiten aufgrund ihrer Erkrankung – aber auch wegen des Kiffens – möchte sie nicht, dass ihr Name in der Zeitung steht. Auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer berichtet die Mittvierzigerin, wie heilfroh sie ist, endlich „ihr“ Medikament zu haben. Eines, das ihre psychischen Beschwerden lindert, das ihre lähmenden Ängste und Zwänge mildert, das ihr hilft, erholsam und ohne Albträume zu schlafen. Vorher sei alles „wahnsinnig überfordernd und anstrengend“ gewesen. „Das Cannabis ermöglicht mir, wieder zu entspannen und ein halbwegs normales Leben zu führen.“

Der Rausch ist die Nebenwirkung

Mit der Angststörung war es vor drei Jahren losgegangen. Allerdings hat sie bereits, seitdem sie 20 ist, mit Depressionen zu kämpfen. Dass sie als Jugendliche und junge Frau einigermaßen mit ihren Beschwerden zurechtkam, erklärt sie sich damit, dass sie bereits zu dieser Zeit Cannabis rauchte. Heute ist sie davon überzeugt, dass ihr Konsum damals eine Art „Selbstmedikation“ war. Auch wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte – schließlich war „Gras“ damals wie heute illegal –, habe sie gute Erfahrungen mit der Droge gemacht: „Ich habe gemerkt, dass es mir besser ging und ich entspannter war, wenn ich etwas geraucht hatte.“ Dabei haben sie der Rausch, anders als ihre Altersgenossen, weniger interessiert. Das „Bekifftsein“ sei für sie eine Nebenwirkung – nicht immer unangenehm, aber nebensächlich.

„Die Depression war zuerst da“

Fakt ist: Auch Kiffen kann psychische Probleme hervorrufen. „Studien weisen auf einen Zusammenhang hin zwischen häufigem Cannabiskonsum und psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen“, ist auf einer Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu lesen. Weiter steht dort aber auch: „Der statistische Zusammenhang sagt nichts darüber aus, ob Cannabiskonsum die Entstehung psychischer Erkrankungen auch verursacht.“ Auf die sich aufdrängende Henne-Ei-Frage antwortet Rebecca W. bestimmt: „Die Depression war bei mir zuerst da, das Cannabis kam danach.“ Ihre Beschwerden seien auch keine Psychosen, wie sie bei manchen Konsumenten aufträten. Die Risiken des Kiffens will sie nicht kleinreden: „Wenn man jung ist und massiv raucht, unterbricht das Gehirn seinen Reifungsprozess und holt das auch nicht wieder auf.“ Deswegen ist es ihr auch wichtig, nicht vor ihrer Tochter zu rauchen – um kein schlechtes Vorbild zu geben. „Niemand will, dass sein Kind zu kiffen anfängt“, ist sie überzeugt.

Die Medikamentendosen enthalten das medizinische Cannabis. Dosiert wird aufs Hundertstelgramm genau. Die sonstigen Utensilien – Vaporisator (o. Mitte) oder Tabak und Blättchen – gleichen dem Zubehör von Freizeitkiffern.
Die Medikamentendosen enthalten das medizinische Cannabis. Dosiert wird aufs Hundertstelgramm genau. Die sonstigen Utensilien – Vaporisator (o. Mitte) oder Tabak und Blättchen – gleichen dem Zubehör von Freizeitkiffern. © Sierigk, Peter | Peter Sierigk

Als die jetzige Krise kam, hatte Rebecca W. seit mehreren Jahren nicht mehr gekifft. Nun, in „gefestigten Verhältnissen“, mit Familie, Haus und gutem Job schlugen erneut psychische Probleme zu – als schlimme Angst um die junge Tochter. Aus Furcht, dass dem Kind etwas Schlimmes zustoßen könnte, das sie sich sehr konkret ausmalte, ließ sie es nicht mehr aus den Augen, folgte ihm unauffällig fast überall hin. „Ich habe meine eigene Tochter gestalkt“, sagt sie. Immerhin habe sie noch gewusst, „dass diese Angst faktisch Unsinn ist“. Aber weil der Kontrollzwang nicht nachließ, begab sie sich in Psychotherapie.

Erfolglose Versuche mit Psychopharmaka

Nachdem sie zunächst keine Medikamente nehmen wollte, überzeugte ihre Therapeutin sie schließlich doch davon. Aber das erste Antidepressivum, ein antriebssteigerndes Mittel, führte dazu, dass die Anspannung sogar noch zunahm. Manchmal habe sie ihre zwanghaften Vorstellungen nicht mehr, wie zuvor, von der Realität unterscheiden können. Pure Panik war dann die Folge. In Absprache mit der verschreibenden Ärztin setzte sie das Mittel ab. Nach einer Pause folgte ein zweiter Versuch mit einem eher beruhigenden Wirkstoff. Der half zwar beim Einschlafen, aber die Ängste und Albträume blieben. „Außerdem fühlte ich mich matt. Der ganze Tag war von einem dämpfenden Grauschleier überzogen. Der Nutzen stand in keinem Verhältnis dazu“, sagt sie. Da die Psychopharmaka nicht halfen, wuchs bei Rebecca W. der Wunsch, es wieder mit Cannabis zu probieren. Sie habe das Kiffen zwischenzeitlich nicht besonders vermisst, sagt sie, „aber natürlich musste ich daran denken, dass es mir früher geholfen hatte, zu schlafen ohne zu träumen.“ Seit ihrer ersten Kifferzeit hatte sich außerdem etwas Entscheidendes verändert: 2017 war das Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft getreten, das es Ärzten ermöglicht, Schwerkranken für medizinische Zwecke Cannabis zu verschreiben, wenn der Zweck der Behandlung nicht durch andere, gängige Medikamente erreicht wird.

Arzt- und Apothekensuche

Der Weg zum medizinisches Cannabis war gleichwohl schwer. Rebecca W.s Hausärztin, die ihr die Psychopharmaka verschrieben hatte, lehnte ab. Tatsächlich gibt es Vorbehalte, Cannabis bei Patienten mit Angststörung einzusetzen, schließlich ist es möglich, dass die Wirkstoffe Ängste noch verstärken. Doch wie unsere Nachforschungen gezeigt haben, ist Rebecca W. keine Ausnahme. Auch im Internet fand sie keine Mediziner in unserer Region, von denen bekannt ist, dass sie bereit sind, Cannabis verschreiben. Daher wandte die Braunschweigerin sich an Dr. Franjo Grotenhermen. Der Spezialist für Cannabistherapie, der eine Praxis in Nordrhein-Westfalen betreibt, ist einer der bekanntesten Befürworter des Einsatzes der Pflanze als Arzneimittel. Ihm berichtete sie von ihrem Wunsch, ihren Erfahrungen und ihrer Krankheitsgeschichte, die sie bis ins Kleinste nachweisen musste. Arztberichte gehörten ebenso dazu wie ein selbstverfasster Patientenbericht. Nach eingehender Prüfung, der Auswahl einer Cannabissorte mit voraussichtlich geeigneter Zusammensetzung und der Festlegung der Dosierung stellte er ihr im März 2021 das erste Rezept aus.

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Doch auch mit dem Rezept war es nicht getan. Nur wenige Apotheken sind bereit, medizinisches Cannabis zu besorgen oder auch nur vorzuhalten. Um an ihr Medikament zu kommen, fährt die Braunschweigerin jetzt bis nach Salzgitter. Hinzu kam eine weitere Frage: Übernimmt die Krankenversicherung die Kosten? Damit die Kasse zahlt, muss bereits vor der erstmaligen Verordnung eine entsprechende Genehmigung erfolgen. Auch der Arzt von Rebecca W. stellte einen solchen Antrag. Allerdings wurde dieser abgelehnt – „reflexhaft“, wie die Braunschweigerin an dem „aus Versatzstücken zusammengestückelten Schreiben“ zu erkennen meint.

Die Kosten zahlt sie aus eigener Tasche

Auch ein Widerspruch führte nicht zum Erfolg. Da sie sich in ihrer Lage nicht zumuten will, vor Gericht zu ziehen, zahlt sie die 185 Euro für die 10-Gramm-Dose, die für 50 Tage reicht, aus eigener Tasche. Dennoch findet sie „unglaublich“, dass die Kassen ablehnen dürfen, obwohl der Arzt die Behandlung für notwendig erachtet. „Die Kassen, die mir das verweigern, erstatten dann anderen Leuten homöopathische Kügelchen, deren Wirkung nicht über den Placebo hinausgeht“, empört sie sich.

Cannabis-Legalisierung: Die wichtigsten Fragen und Antworten

Rebecca W. ist – wie auch viele Experten – der Meinung, dass es vor allem mehr Forschung braucht, damit Cannabis als Medikament aus der „irgendwie verdächtigen Schmuddelecke“ herauskommt. Aber solange es an klinischen Studien mangelt, kommt es bei der Bewertung, ob eine Verschreibung sinnvoll ist, auch auf die praktische Erfahrung der Patienten an. Grotenhermen, der Arzt von Rebecca W., spricht sogar von einem „Cannabis-Dilemma“. In einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages, 2016, vor der Verabschiedung des Cannabis-Gesetzes, sagte er: „Die Frage ist: Verlassen wir uns allein auf klinische Studien, oder entscheiden wir uns, auch die Erfahrungen der Patienten ernst zu nehmen?“ Da der Konsum von Cannabis so weit verbreitet sei, hätten die Patienten hier oft mehr Erfahrung als die Ärzte, erklärte er den Abgeordneten. Letztlich gelte es, in jedem Einzelfall genau zu beobachten, wie ein Patient ein Medikament vertrage. Dies gelte im Übrigen ja auch bei anderen Arzneimitteln mit Nebenwirkungen.

Therapie hat „einen Schalter umgelegt“

Rebecca W. ist überzeugt, dass die Nebenwirkungen in ihrem Fall tolerierbar sind. Durch den täglichen Konsum falle der Rausch nur leicht aus. Ihr Arbeits- und Familienleben sei davon völlig unberührt. „Ich bin vielleicht ein bisschen schusselig, das ist schon eine Nebenwirkung, aber das gleiche ich aus, indem ich mich gut organisiere.“ Zu wissen, dass sie allabendlich Linderung von ihrer Anspannung erfahre, das beruhige sie sehr. Sieht sie das nicht als Abhängigkeit? „Nee“, sagt sie, „bei anderen Medikamenten, die chronisch Kranke über Jahre nehmen, würde man das ja auch nicht so nennen“. Das Cannabis versetze sie in die Lage, die Anstöße von ihrer Psychotherapeutin umzusetzen. „Als ich schwer depressiv war, war daran überhaupt nicht zu denken.“ Die Psychologin übrigens sah den Cannabis-Konsum ihrer Klientin lange skeptisch. Aufgrund ihrer Arbeit mit Suchtkranken, von denen ebenfalls viele kiffen, war die Therapeutin zunächst sehr zurückhaltend, berichtet Rebecca W.. Allerdings habe sie ihre Sicht geändert. „Kürzlich hat sie mir gesagt, dass sie anerkennt, dass die Therapie bei mir einen Schalter umgelegt hat.“

Cannabis- In Kosmetik oder als Medikament

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    Dennoch fürchtet Rebecca W., dass ihr Cannabiskonsum in Verbindung mit ihrer Krankheit bei manchen Lesern Argwohn hervorruft. „Deshalb hoffe ich einfach, dass man mir glaubt: Wie jeder Kranke freue auch ich mich darauf, dass es mir wieder so gut geht, dass ich mein Medikament nicht mehr benötige.“ Dass sie dann, wenn es soweit ist, weiter gelegentlich einen Joint „zur Freude“ rauchen werde, will sie sich nicht nehmen lassen. „Warum auch“, sagt sie. Bis dahin ist Cannabis wohl auch in Deutschland freigegeben – ohne Rezept.

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    Nachgefragt bei der AOK Niedersachsen

    Eine Nachfrage bei der AOK Niedersachsen (der Rebecca W. nicht angehört) ergab, dass von November 2020 bis Oktober 2021 rund 1000 Versicherte Anträge auf Kostenübernahme der Cannabis-Therapie gestellt haben – meist Schmerz- und Tumorpatienten. Grundsätzlich, so die AOK, schließe man keine schwerwiegende Erkrankung von der Erstattung aus. „Wir prüfen in jedem Einzelfall, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Cannabis vorliegen.“ Zuletzt hat die AOK nach eigenen Angaben in rund 70 Prozent der Fälle eine Genehmigung erteilt. Die Zahl sei gestiegen, auch weil die Qualität der Anträge seit 2017 „deutlich zugenommen“ habe.

    Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Cannabis sieht man bei der AOK nicht, Forschungsbedarf dagegen schon: „Es existieren nach wie vor nur wenige Studien, die wissenschaftlich belegen können, dass Cannabis bei einer bestimmten Erkrankung oder einem Symptom die am besten geeignete Therapie ist.“