Braunschweig. Jochen Nehrkorn war von 1963 bis 2006 Setzer bei unserer Zeitung. Er erinnert sich, wie das damals war.

Flink flitzen seine Finger über die kleinen Fächer der riesigen Schublade, die auf dem Tisch steht. In den Fächern sind unzählige kleine Metallstifte, mal ein wenig dicker, mal ein wenig dünner, mit jeweils einem ausgestanzten Buchstaben an ihrer Spitze. Doch die, die er sucht, findet Jochen Nehrkorn nicht. Zumindest nicht sofort. „Alles verfischt“, flucht er. Verfischt ist Setzersprech und bedeutet, dass die Metallstifte nach ihrer Nutzung nicht wieder richtig einsortiert wurden. Die Schublade ist ein Setzkasten, und die Metallstifte sind die verschiedenen Buchstaben.

Jochen Nehrkorn berichtet in der aktuellen Folge unseres Podcasts „Zwischen den Zeilen“ von seiner Zeit als Setzer. Auch in der Pageflow-Geschichte zu unserem Jubiläum geht es unter anderem um die Zeit, als die Zeitung noch per Hand gesetzt wurde.

Jochen Nehrkorn erzählt, wie Zeitung vor dem Computer-Zeitalter gemacht wurde

Jochen Nehrkorn war Setzer. Mittlerweile ist er in Rente, den Beruf des Setzers gibt es heutzutage ohnehin so gut wie gar nicht mehr. Er durchforstet den Setzkasten auch nicht in einer Setzerei, sondern in der Redaktion unserer Zeitung. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Nicht nur in seine, sondern in die der Entstehung einer Zeitung.

Viele Jahre sind vergangen, seit Nehrkorn diesen Beruf ergriffen hat. 1963, nachdem er seine Lehre abgeschlossen hatte, ging er zur Zeitung. In der Lehre musste er Deutsch und Mathe pauken. Und Fingerspitzengefühl mitbringen – im wahrsten Sinne des Wortes. „Meine Frau wundert sich noch heute, über die Ruhe, die ich habe“, sagt er.

Setzen ist nichts für zittrige Hände

Ruhige Hände waren in dem Beruf wichtig, in einer Zeit, in der es noch keine Computer gab. Damals kamen die Texte auf einem Blatt Papier in die Setzerei – manchmal von einem oder einer Auszubildenden mit dem Zug aus den Redaktionen überbracht. Die Setzerei bestand vor allem aus einem großen Saal mit mehreren Gassen, in denen jeweils vier Setzer saßen. Wort für Wort, Satz für Satz, Zeile für Zeile wurden hier zu den Seiten zusammengesetzt.

Nehrkorn kramt in seiner Tasche, bis er findet, was er sucht. Er holt einen länglichen Gegenstand aus Blei hervor. „Das ist das Handwerkzeug eines Schriftsetzers: ein Winkelhaken“, sagt er. Neben dem Winkelhaken und den Buchstaben brauchte er ein Setzschiff, eine Kolumnenschnur und eine Ahle. War alles im Winkelhaken zusammengesetzt, nahm man das Gesetzte heraus und stellte es auf ein Setzschiff. War der Satz im Setzschiff fertig, wurde er mit einer Kolumnenschnur ausgebunden. Dazu benötigte man die Ahle, mit der man eine kleine Schlaufe zu machen, damit alles fest sitzt.

Hektik in der Setzerei war keine Seltenheit

Wenn alles gesetzt war und man ein paar Zeilen rausnehmen musste, passierte es manchmal, dass alles zusammenfiel und Nehrkorn wieder von vorne anfangen musste – eine Menge Arbeit. „Was wir für Schriften hatten: diese ganz kleinen, fitzeligen 6.-Schriften. Da musste man wirklich eine ruhige Hand haben“, sagt der ehemalige Setzer. Manchmal waren die Texte von dem Blatt Papier oder Überschriften auch zu lang, und manche Redakteure und Redakteurinnen wurden ungehalten, wenn man ihre Texte ungefragt änderte – waren aber nicht immer zu erreichen. Das konnte ganz schön stressig werden, vor allem bei einer Tageszeitung, bei der jeden Tag ein neues Produkt fertig sein musste.

Jochen Nehrkorn vor Werkzeugen, mit denen er früher gearbeitet hat. 
Jochen Nehrkorn vor Werkzeugen, mit denen er früher gearbeitet hat.  © bz | Lukas Dörfler

„Natürlich bleiben bei einer solchen Hektik Fehler nicht aus. Obwohl wir damals 30 Korrekturen in einer Schicht hatten“, sagt Nehrkorn. Das konnten Fehler sein, wie sie auch heute noch in den Zeitungen zu finden sind, aber auch Fehler, die im Zeitalter der Computer nicht mehr passieren. Ein Buchstabe, der falsch herum eingesetzt und somit auch verkehrt herum gedruckt wurde. Fliegenköpfe nannte man sie damals.

Nachdem eine Seite gesetzt war, wurde ein Korrekturabzug gemacht, den sich die Autorin oder der Autor angeschaut haben. Nachdem Fehler korrigiert wurden, wurde die Seite freigegeben. Von ihr wurde eine Mater gemacht, die halbrund gebogen und ausgegossen wurde. In der nächsten Abteilung wurde dann gefräst, weil nichts Unnötiges hochstehen durfte. Denn was noch hochstand, wurde mitgedruckt.

Maschinen lösten die reine Handarbeit ab

Die Zeit veränderte sich und mit ihr die Arbeit in der Setzerei. Überschriften wurden mit der Hand gesetzt, Texte waren Maschinensatz. Schon Ende der Sechziger wurden weniger Setzer ausgebildet. „Da habe ich mir überlegt, was ich nun mache. Der Abteilungsleiter kam zu mir und sagte: „Du wolltest doch immer Maschinensatz machen. Damit kannst du anfangen.“ Die Setzmaschine macht einzelne Zeilen, während der Handsetzer jeden Buchstaben einzeln setzen muss. Die Prüfung zum Maschinensetzer machte er bei der Hannoverschen Presse. Beim Maschinensatz arbeitete Nehrkorn an einem Bildschirm. Einzelne Sätze wurden auf Papier belichtet, die dann ausgeschnitten und mit Wachs aufgeklebt wurden, bis die Seite fertig war. Von den fertigen Seiten wurden dann mit einer riesigen Kamera Fotos gemacht, die dann weiterverarbeitet wurden.

Doch irgendwann merkte Nehrkorn, dass auch diese Zeit vorübergehen sollte. „Die Maschinen wurden nach und nach zur Seite gerückt, um Platz für die Computer zu schaffen“, sagt er. Das müsste so um 1980 gewesen sein, glaubt Nehrkorn. Doch die Computer waren noch nicht vergleichbar mit den Computern heute. Das, was auf den Bildschirmen gesetzt wurde, konnte nicht direkt gespeichert werden, musste erst an den großen Rechner geschickt werden. An den Wänden befanden sich Ampeln. „Wenn da das rote Licht anging, hieß es: Alle Hände weg von den Computern und schnell speichern. Das konnte manchmal grausam sein. Spaß gemacht hat es trotzdem.“

Manchmal sind die Computer auch komplett ausgefallen. Da war es dann ein Glück, dass die Maschinen nur zur Seite geschoben waren. „Plötzlich arbeiteten dann alle wieder wie in der Zeit vor den Computern, an den Setz- und Schreibmaschinen. Bis wieder jemand rief: Läuft wieder – und alle zurück an die Computer gingen.“

43 Jahre, bis 2006, war Jochen Nehrkorn bei der Zeitung. Die letzten Jahre steuerte er die Belichtung der Druckplatten über einen Computer. Am Ende seiner Laufbahn machte er Führungen, erklärte Interessierten, was man zum Setzen und Drucken brauchte. Das Digitale habe vieles einfacher gemacht. Man könne – in Ausnahmefällen – eine Überschrift auch mal ein wenig quetschen, wenn sie zu lang ist. Das war mit den Metallstiften natürlich nicht möglich. Auch, dass die Texte nicht mit dem Zug oder Auto gebracht werden, sei sicher eine große Erleichterung. Es geht alles schneller, Online können Artikel mit nur einem Knopfdruck erscheinen.

Er findet es schade, dass es den Beruf heute so gut wie gar nicht mehr gibt. Es ist ein Handwerk, das einen Großteil seines Lebens bestimmt hat. Kaum jemand macht heute noch die Erfahrungen, die er damals gemacht hat. Mittlerweile gibt es nur noch vereinzelte Setzereien, die Premiumprodukte für Liebhaberinnen und Liebhaber erstellen. Wenn er solche Setzereien mal im Fernsehen sieht, dann freut Nehrkorn sich. Doch er weiß, dass die Zeit des Setzens vorbei ist. „Wenn man etwas mit einer Prägung haben will, macht es für Kenner vielleicht noch Sinn, in eine Setzerei zu gehen. Sonst ist das meist Quatsch. Am Computer kann man Sachen heute viel schneller und meist auch besser machen“, sagt er.

Nehrkorn erinnert sich gerne an seine Zeit als Setzer zurück. Doch den verfischten Setzkasten wieder richtig zu sortieren, macht keinen Sinn. Er verschwindet wieder im Archiv – und mit ihm wird wohl nie wieder eine Zeitung gedruckt werden. Doch eine Sache hat sich auch heute nicht geändert. Nachdem Nehrkorn den Setzkasten und die Setzerwerkzeuge begutachtet hat, heißt es, genau wie damals: Hände waschen! Das meiste besteht nämlich aus Blei. Und das ist auch heute noch giftig.