Peine. Christian Priebe war 2013/14 für die Polizei in Kabul. Im Interview schildert er, wie er die dramatischen Szenen in Afghanistan jetzt erlebt.

Fast 20 Jahre lang waren auch deutsche Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan im Einsatz, um Polizeikräfte vor Ort auszubilden und zu unterstützen. Christian Priebe, heute Polizeichef in Peine, war 2013/14 als Mitglied des „German Police Projekt Teams“ in Kabul. Im Interview schildert er seine Erfahrungen – und wie er die dramatischen Szenen aus Afghanistan in diesen Tagen erlebt.

Herr Priebe, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus Afghanistan sehen?

Ich verfolge die Entwicklung mit Bestürzung. Das Afghanistan der 70er Jahre war ein sehr weltoffenes, westliche geprägtes Land. In den vergangenen 20 Jahren hat es sich unter dem Einfluss des Westens wieder in diese Richtung entwickelt. Ich hätte mir diese Strukturen viel tragfähiger vorgestellt. Noch immer bin ich gut mit Angehörigen aus Polizei und Militär verschiedener Länder in Kontakt, mit denen ich regelmäßig schreibe oder skype. Es sind Kolleg*innen anderer Nationen, die teilweise noch bis vor wenigen Tagen in Kabul waren. Es ist zu befürchten, dass Teile der Errungenschaften wie das Wahlrecht, der Zugang zu Bildung auch für Mädchen und Frauen und vieles mehr in Kürze keinen Bestand haben könnten.

Sie haben sich als Teil der Polizei-Mission für Freiheitsrechte im Land eingesetzt. Haben Sie jetzt das Gefühl, der Einsatz war umsonst?

Dass diese Strukturen nun innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen sind, macht mich schon betroffen. Aber umsonst war unser Einsatz trotzdem nicht: 20 Jahre lang hatte die Bevölkerung Zugang zu Bildung und auch Demokratie und Freiheitsrechte erlebt. Dass wir dazu einen Teil beigetragen haben, tröstet ein bisschen.

Sie waren 2013/14 in Afghanistan im Einsatz. Was war Ihre Aufgabe?

Ich war zusammen mit einem Team von 12 Kolleg*innen im Schwerpunkt zuständig für die Organisation und Durchführung der gesicherten Transporte der eingesetzten Polizeibeamt*innen in Afghanistan. Das beinhaltet im Wesentlichen die Transporte innerhalb Kabuls, etwa zum Flughafen oder der Botschaft, aber auch Flüge nach Mazar-i-Sharif oder Kundus.

Christian Priebe blickt über die Dächer von Kabul.
Christian Priebe blickt über die Dächer von Kabul. © Privat

Mit welchen Herausforderungen hatten Sie zu kämpfen?

Die Afghanen hatten 40 Jahre Krieg hinter sich. Es gab etliche Bewerber bei der Polizei, die nicht lesen und schreiben konnten. Die hohe Analphabetenrate hat die Ausbildung erschwert.

Inwiefern haben Ortskräfte die Mission unterstützt?

Im Grunde war es seit der Intervention der amerikanisch geführten Koalition immer das Ziel der Missionen, die Afghanen dazu zu befähigen, eigenverantwortlich die Geschicke in ihrem Staat zu leiten und zu lenken. Ein stabiler Staat mit den wesentlichen Strukturen, die wir auch hier kennen, sollte entstehen. Dazu wurde anfangs noch auf allen Ebenen, also von der Ausbildung der Verkehrspolizisten, bis hin zum Coaching der in den Ministerien Verantwortlichen trainiert. Im Laufe der Jahre wurde immer mehr Verantwortung in die Hände der Afghanen selbst gelegt. Die Ortskräfte haben dabei als Bindeglied zur einheimischen Bevölkerung gedient. Sei es, indem sie Kontakte hergestellt oder das Dolmetschen der Gesprächs- und Ausbildungsinhalte übernommen haben.

Einen großen Anteil am Fortschritt hatten also gerade die afghanischen Ortskräfte, die trotz aller persönlichen Schwierigkeiten Bundeswehr und Polizei ganz wesentlich unterstützt haben.

Gerade die Ortskräfte sind nun in großer Gefahr. Sie könnten ins Visier der Taliban geraten...

Ihnen gegenüber tragen meiner persönlichen Auffassung nach alle westlichen Parteien große moralische Verantwortung. Wir müssen alles versuchen, diese verlässlichen Ortskräfte, soweit dies möglich ist, auch weiterhin zu schützen. Denn die Erkenntnisse der vergangenen Stunden, Tage und Wochen zeigen, dass die afghanischen staatlichen Strukturen entgegen der Einschätzung speziell der Amerikaner ohne den Einfluss der Koalition nie eigenverantwortlich tragfähig wurden.

Dass die Innenminister der Länder dem Bundesinnenminister ein einheitliches, effektives Bundesaufnahmeprogramm für afghanische Ortskräfte vorschlagen, freut mich sehr. Das ist ein wichtiges Zeichen.

Die internationalen Kräfte haben jahrelang afghanische Streitkräfte und Polizisten ausgebildet – diese sind nun ohne großen Widerstand zu den Taliban übergelaufen oder geflüchtet. Was ist Ihr Eindruck: Wie konnte man sich so verschätzen?

Details der Machtübernahme sind aus der Entfernung sicher nicht seriös zu beurteilen. Ein Teil der Gründe mag darin liegen, dass Afghanistan in seinen festgelegten Grenzen kein gefestigtes und gesellschaftlich geeintes Land wurde und den Angehörigen der Sicherheitskräfte der Regierung vielleicht nicht überall klar war, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Man darf nicht vergessen, dass die Bevölkerung in Afghanistan regional in wesentlichen Merkmalen wie der Glaubensrichtung, der Kultur, der Herkunft oder des Bildungsstandes sehr unterschiedlich ist. Das Bild eines gemeinsamen Staates ist da weiter entfernt, als die örtlichen Bindungen zur Familie oder dem eigenen Dorf bzw der Stadt.

Hinzu kommt, dass es den Taliban auch trotz der militärischen Übermacht der Nato in den vergangenen Jahren offenbar gelungen ist, im Hintergrund weiter zu existieren und sich auf den Abzug der westlichen Mächte vorzubereiten. Ähnliche Erfahrungen hat Russland bereits beim Abzug seiner Truppen gemacht.

Man sollte aus der Ferne immer vorsichtig mit Urteilen sein, aber ich denke, dass der Rückzug der internationalen Kräfte innerhalb nur weniger Monate sowie das Ausreisen der amtierenden Regierung die afghanischen Sicherheitsbehörden vor große logistische, operative aber auch moralische Herausforderungen gestellt haben dürfte.