Braunschweig. Nach Homeschooling und Wechselunterricht haben viele Schüler Probleme, den Anschluss zu halten. Zwei Projekte zeigen, wie geholfen werden kann.

Ab mittags ist es voll im Ratskeller in Steterburg, da wird das ehemalige Restaurant zum Nachhilfe-Treff. Kinder mit Schulranzen laufen die Treppe hinunter in den Saal, der aussieht wie ein Klassenzimmer – mit Tischen, Lernplakaten und Tafel. Bis zu 50 Grundschülerinnen und Schüler brüten hier fünfmal in der Woche über ihren Hausaufgaben. Sie sprechen Türkisch, Rumänisch, Bulgarisch – und manchmal auch alles durcheinander. Was sie alle eint: Sie brauchen Hilfe beim Erlernen der deutschen Sprache.

Ilknur Gülsahin betritt das alte Gewölbe, das jetzt vom Bürgerverein im Salzgitteraner Stadtteil genutzt wird, und winkt den Kindern fröhlich zu. „Wären wir während der Corona-Krise nicht für sie da gewesen, viele hätten in der Schule wohl komplett den Anschluss verloren“, sagt sie.

Die Steterburgerin hatte mit dem Vorsitzenden des Bürgervereins, Christian Striese, vor gut zwei Jahren eine Grundschul-Hilfe für benachteiligte Kinder ins Leben gerufen. Steterburg ist ein Stadtteil, in dem viele Menschen mit ausländischen Wurzeln leben, allein in den letzten Jahren zogen mehr als 600 Osteuropäer zu. „Viele Eltern sprechen kein Deutsch – wie sollen sie ihre Kinder unterstützen?“

Weitere Texte zu dem Thema:

Bundesbildungsministerin: Bis zu 25 Prozent der Schüler haben Lernrückstände

Monatelanges Homeschooling und Wechselunterricht während der Corona-Krise haben bei den Kindern Spuren hinterlassen. Wie groß die Lernrückstände sind, ist schwer zu ermitteln. Der deutsche Lehrerverband warnte unlängst davor, dass je nach Schulart und Region fast ein ganzes Jahr verloren gegangen sei. Laut Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) haben bis zu 25 Prozent aller Schüler substanzielle Lernrückstände, die durch gezielte Nachhilfe aufgeholt werden sollen. Das bekommen auch die professionellen Nachhilfe-Institute zu spüren: „Seit der Präsenzunterricht an den öffentlichen Schulen wieder möglich ist und die Corona-Einschränkungen entfallen sind, verspüren wir eine verstärkte Nachfrage zum Vorjahr“, sagt Denise Kirchberger, Sprecherin der deutschlandweit tätigen „Schülerhilfe“. Mathematik sei das Nachhilfefach Nummer eins, gefolgt von Englisch und Deutsch.

Franziska Giffey (l, SPD), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, stellten im Mai das „Aktionsprogramm Aufholen
Franziska Giffey (l, SPD), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, stellten im Mai das „Aktionsprogramm Aufholen" vor. Mit zwei Milliarden Euro will die Bundesregierung die Folgen der Corona-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche abmildern. Eine Milliarde Euro ist für Nachhilfe- und Förderprogramme für Schüler gedacht, die Lernrückstände aufholen müssen. © dpa | Kay Nietfeld

Doch nicht jede Familie kann sich kommerzielle Nachhilfeangebote leisten. Der Bürgerverein in Steterburg will eben jene Schüler erreichen, die ohne begleitende Förderung keine Chance hätten, den Anschluss zu behalten. Abiturienten und Studierende helfen den Kindern, den Lernstoff aus der Schule nachzuarbeiten. Der Verein warb an verschiedenen Stellen finanzielle Mittel für die Förderung ein; Ilknur Gülsahin hofft auf eine dauerhafte Unterstützung. Es geht nicht nur um Nachhilfe in Mathe oder Deutsch, sondern auch darum, Schülern Materialien oder Technik zur Verfügung zu stellen, die sie zum Lernen brauchen. „Es gibt Familien, die sich keine Hefte, Tuschkästen oder Bücher leisten können“, sagt Ilknur Gülsahin. Oder die keine Laptops oder Tablets zuhause haben, um ihren Kindern das Homeschooling zu ermöglichen. „In den Osterferien haben wir durchgearbeitet, weil im vergangenen Schuljahr so viele Lücken entstanden sind.“

Lesen Sie mehr zum Thema:

Defizite aus der Zeit des Homeschoolings auszugleichen – dieses Ziel hat sich auch das Projekt „Lern-Buddies“ der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der TU Braunschweig gesteckt. Während der Lockdown-Phasen wurden Lehramtsstudentinnen und Studenten als Lern-Buddies vermittelt. Die Lernpaten unterstützen Schüler individuell oder in Lerngruppen. „In der Zeit des Homeschoolings gab es drei bis fünf Anfragen am Tag“, sagt Initiatorin Dr. Claudia Schünemann. Etwa 150 Studierende seien im unterschiedlichen Umfang beteiligt gewesen. Hilfsbedarf habe es in allen Schulformen gegeben, häufig hätten sich aber Gymnasialschüler gemeldet, die Lücken in den naturwissenschaftlichen Fächern oder in Mathe aufarbeiten wollten. Auch Eltern von Erstklässlern hätten sich verstärkt an die Projektbeteiligten gewandt. „Viele hatten Angst, dass ihre Kinder schon gleich zum Start in ihr Schulleben den Anschluss verlieren.“

Der Verein „Lernbuddy“ will Studierende und Schüler zusammenbringen

Nach wie vor gibt es Interesse an dem Projekt – auch aufseiten der Schulen. Nach dem Homeschooling und Distanz-Unterricht geht es nun vor allem um die Frage, wie Schüler vor Ort unterstützt werden können. Um das Projekt weiter voranzutreiben, haben verschiedene Akteure aus der Bildungs- und Jugendarbeit im März den Verein „Lernbuddy“ gegründet. Ziel ist es, Studierende und Schüler regionaler Schulen zusammenzubringen – über die Corona-Krise hinaus. Zwar läuft seit Wochen der Unterricht an den Schulen wieder, aber an Normalität ist vielerorts nicht zu denken. „Es dauert lange, bis das Defizit, das sich über anderthalb Jahre aufgebaut hat, abgearbeitet ist“, sagt Claudia Schünemann. Sie hofft, dass die Studierenden künftig gegen Honorar auch längerfristig, mindestens für ein Schulhalbjahr an Schulen vermittelt werden können.

Die Studentin Marieke Moritz unterstützte im vergangenen Jahr Schülerinnen und Schüler bei Lernproblemen zu Hause.
Die Studentin Marieke Moritz unterstützte im vergangenen Jahr Schülerinnen und Schüler bei Lernproblemen zu Hause. © TU Braunschweig | Marieke Moritz

Der Verein selbst hat kein Geld, das heißt, die Kosten müssen die Schulen selbst tragen – entweder mit Hilfe zusätzlicher Mittel von Bund oder Land, die für Nachhilfeprogramme zur Verfügung stehen oder über eine Finanzierung aus dem Schulbudget. Auch können Schüler über die Bildungsgutscheine unterstützt werden. Darüber hinaus plant der Verein, Spenden einzusammeln und Anträge an Stiftungen zu stellen, damit die Mittel der Schulen gegebenenfalls aufgestockt werden können. „Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, aber da stehen wir noch ganz am Anfang.“

An der Grundschule Rühme sind „Lern-Buddies“ im Einsatz, um Schüler zu unterstützen

Bewährt hat sich der Einsatz vor Ort bereits, wie Sigrid-Marianne von Lacroix, Leiterin der Grundschule in Rühme, bestätigt. 110 Schülerinnen und Schüler besuchen die offene Ganztagsgrundschule im Norden Braunschweigs, über Monate hätten sie teils nur jeden zweiten Tag in der Schule lernen können. Zeitweise seien vier Lern-Buddies da gewesen, die die Kinder unterstützt haben. „Lern-Buddies haben Arbeitsblätter erklärt, Schreibtechniken eingeübt, Bücher gelesen, Unterrichtsstoff nachgearbeitet – und auch die Kinder motiviert“, zählt die Schulleiterin auf. Die Schule wiederum habe den Studierenden dadurch Kurzpraktika ermöglicht, die sie ansonsten aufgrund des Homeschoolings gar nicht hätten machen können. Eine Win-Win-Situation also.

Inzwischen sind noch zwei Lern-Buddies an der Schule eingesetzt. Es gehe nicht nur darum, Lernstoff nachzuholen. „Lern-Buddies können auch beim Einstieg in den Schulalltag helfen“, sagt Sigrid-Marianne von Lacroix. In den Lockdown-Phasen sei der Rhythmus verloren gegangen. Auf einmal müssten die Schüler wieder fünf Stunden lang vormittags beschult werden, in voller Klassenstärke, das sei eine Herausforderung. Sich länger zu konzentrieren, sich an Regeln zu halten, gewisse Arbeitstechniken anzuwenden – auch das müsse erst wieder geübt werden.

Noch ist ungewiss, wie es im nächsten Schuljahr weitergeht, ob nicht doch eine vierte Corona-Welle Schüler zumindest phasenweise wieder ins Homeoffice zwingt. „Wir üben schon jetzt ein, wie eine Online-Unterstützung aussehen kann“, sagt Projekt-Initiatorin Claudia Schünemann. Immerhin: Genug Erfahrung haben die Lern-Buddies bereits.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung