Braunschweig. Die Corona-Pandemie hat auch die Radfahrausbildung an den Schulen ausgebremst. Das kann fatale Folgen haben.

Habt ihr schon mal bei einem Schneckenrennen mitgemacht? Wer am langsamsten mit seinem Rad ans Ziel kommt? Auf dem großen Garagenhof markiert eine mit Kreide gemalte Linie den Start. 50 Meter weiter ist das Ziel. „Babyleicht“, sagt Lena. „Easy peasy“, sagt Finn. Auf die Räder, fertig los….

Doch so babyleicht ist es gar nicht, als Schnecke unterwegs zu sein. Die beiden Fünfjährigen wollen kräftig in die Pedalen treten, doch vielmehr müssen sie die Bremsen ziehen. Schleichen statt rasen. Sie wackeln, kippen, kommen immer wieder mit den Füßen auf den Boden.

Die Radfahrausbildung an Schulen konnte lange nicht stattfinden

Das Schneckenrennen ist eine der Übungen, die die Verkehrssicherheitsberater der Polizei mit Grundschülerinnen und -schülern machen, um sie auf die Radfahrprüfung vorzubereiten. Ziel ist es, die Viertklässler so zu schulen, dass sie sich mit ihren Fahrrädern sicher im Straßenverkehr bewegen können. Doch die Corona-Pandemie hat auch die wichtige Radfahrausbildung an den Schulen über Monate ausgebremst, die praktischen Übungen in Gruppen laufen erst jetzt wieder an.

„Wir haben vor wenigen Wochen mit der Vorbereitung der Radfahrprüfungen wieder begonnen und an einigen Grundschulen sind sie bereits schon abgeschlossen“, sagt Julia Mispelhorn, Verkehrssicherheitsberaterin der Polizeiinspektion Braunschweig. In den nächsten Tagen und Wochen folgten die restlichen Schulen. „Wir sind froh, dass die Durchführung in diesem Jahr problemlos möglich ist.“

Julia Mispelhorn von der Polizei in Braunschweig mit Fünftklässlern an der Neuen Oberschule in Braunschweig im September 2020.
Julia Mispelhorn von der Polizei in Braunschweig mit Fünftklässlern an der Neuen Oberschule in Braunschweig im September 2020. © Bernward Comes

Weil dennoch durch die Corona-Pandemie eine Lücke entstanden, die so schnell nicht zu stopfen ist, hat sie zusammen mit ihren Kollegen im Präventionsteam Videoclips gedreht für Eltern, die mit ihren Kindern eigenständig das Radfahren und die Verkehrsregeln üben wollen. Finn und Lena sind zwar erst fünf Jahre alt – also noch zu jung für die Fahrradprüfung und zu jung, um ihre Fahrräder sicher zu beherrschen. Trotzdem machen ihnen die Übungen Spaß: Slalom fahren um Plastikkegel, die Abstände müssen ja erstmal nicht zu eng sein. Fahren zwischen zwei parallel gezogenen Kreidelinien. Auf das Fahrrad von beiden Seiten auf- und absteigen, das Fahrrad als Roller benutzen – Geschicklichkeit trainieren, Gleichgewicht schulen, auf beiden Seiten. Übungen, die man auf dem Parkplatz, in der Spielstraße, in einer verkehrsberuhigten Zone machen kann, wie Julia Mispelhorn betont. „Je früher Kinder aufs Fahrrad steigen und üben, desto besser.“

Eltern sollten früh den Weg zur Schule mit ihren Kindern trainieren

Selbst wenn sich die ganz Kleinen recht geschickt beim Radfahren anstellen, bis sie sicher im Straßenverkehr fahren können, müssen sie noch eng begleitet werden. Treten, lenken, bremsen, abbiegen und dann wieder geradeaus schauen und gleichzeitig das Geschehen rechts und links im Blick haben – das überfordert Kinder im Verkehr noch häufig bis weit ins Grundschulalter hinein. Hinzu kommen Gefahren, die Kinder nur schwer abschätzen können, erklärt Julia Mispelhorn. „Inzwischen sind zum Beispiel immer mehr E-Fahrzeuge unterwegs, die man beim Heranfahren mitunter nur schlecht oder spät hört.“ Auch das erfordere eine besondere Aufmerksamkeit. Eltern sollten deshalb so oft wie möglich den Weg zum Kindergarten und später zur Schule mit ihren Kindern gemeinsam zurücklegen, erst zu Fuß, dann mit dem Fahrrad. Wer schließlich die Radfahrprüfung in der vierten Klasse bestanden hat, könne dann auch allein mit dem Fahrrad zur Schule fahren.

Dass sicheres Radfahren längst nicht selbstverständlich ist, diese Erfahrung machen die Verkehrssicherheitsberater bei den Prüfungen immer wieder. „Unser Eindruck ist, dass die motorischen Fähigkeiten abnehmen“, sagt Martin Opiela von der Polizei in Braunschweig. Diese Beobachtung deckt sich mit den Erkenntnissen aus einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen aus dem Jahr 2015. Rund 7000 Polizisten, Eltern, Kinder sowie Lehrer wurden dafür zum Stand der Radfahrausbildung an Schulen und den motorischen Voraussetzungen bei Kindern befragt. Den Angaben zufolge hatte ein Drittel der Eltern die Kinder beim Radfahren nicht oder nur wenig unterstützt, jedes sechste Kind im Umfeld der Wohnung keine Möglichkeit, aufs Rad zu steigen. Insgesamt stellten die Experten fest, dass die motorische Leistung von Kindern alle 25 Jahre um zehn Prozent abnimmt.

Laut einer Studie halten viele Eltern die Schulwege nicht für sicher genug

Nicht nur Bewegungsmangel und fehlende Praxis entpuppen sich als Problem, sondern offenbar auch die Infrastruktur: holprige, enge Radwege, Straßen ohne ausgewiesenen Streifen für Radfahrer, Routen mit schnellem Durchgangsverkehr machen das Radeln zu einer Herausforderung. Nach einer Umfrage des Fahrrad-Clubs ADFC aus dem vorigen Jahr denkt rund 77 Prozent der Befragten, dass mehr Eltern ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren oder zu Fuß gehen lassen würden, wenn die Schulwege sicherer werden.

Die Hälfte wünscht sich eigene Fahrradstraßen und mehr Radfahrunterricht. 43 Prozent der Kinder unter zehn Jahren werden der Umfrage zufolge mit dem Auto zur Schule gebracht – in den fahrradfreundlichen Niederlanden sind es nur 28 Prozent.

Häufig werden Kinder von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule gebracht. Doch durch solche
Häufig werden Kinder von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule gebracht. Doch durch solche "Elterntaxis" entstehen Gefahren: Gehwege werden blockiert, vor den Schulen entsteht zusätzlicher Verkehr. © picture alliance/dpa | Marijan Murat

„Dabei schafft man mit diesen sogenannten Elterntaxis neue Gefahren“, warnt Martin Opiela: Um die Kinder möglichst nah am Eingang abzusetzen oder abzuholen, halten Autos mitunter regelwidrig in zweiter Reihe oder mitten auf der Fahrbahn. Ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, springen Kinder aus dem Wagen, Bürgersteige werden für Wendemanöver überfahren.

ADFC schlägt Eltern-Haltestellen vor

Als Lösung für das Verkehrs-Chaos schlägt der ADFC vor, „Eltern-Haltestellen“ etwa 250 Meter entfernt von den Schulen einzurichten. Auch könnten Straßen an Schulen temporär gesperrt werden. Vor allem aber müsse Familien mit Kindern das Radfahren wieder schmackhafter gemacht werden – etwa durch den Ausbau von Velorouten: ein Netz aus breiten Wegen, die getrennt von Autoverkehr und Fußwegen laufen, sicher und komfortabel zu befahren sind und die Stadtteile mit dem Zentrum verbinden. „Außerdem müssen Radwege kontinuierlich überprüft und nachgebessert werden“, fordert Susanne Schroth, Vorsitzende des ADFC Braunschweig. Denn diese seien häufig in einem miserablen Zustand.

Wenn wieder mehr Eltern dazu bewogen werden aufs Fahrrad umzusteigen, profitieren auch die Kinder. „Kinder müssen sich bewegen, um gewisse Fähigkeiten auszubilden“, betont Nicolai Engel, Geschäftsführer der Landesverkehrswacht Niedersachsen. Er sieht die Eltern in der Pflicht, das Radfahren zu trainieren – auch wenn diese in der Pandemie mit Beruf, Betreuung und Homeschooling mehrfach belastet waren. Auch ergänzende Angebote seien weiter möglich– aller Beschränkungen in der Corona-Krise zum Trotz. Im Frühjahr 2020 entstand beispielsweise die Idee der Ferien-Fahrradschulen: Kinder des dritten und vierten Grundschuljahrgangs können außerhalb der Schulzeiten sicheres Fahren entlang eines Parcours üben und lernen auch Theorie rund ums Fahrrad. Das Projekt läuft zusammen mit den Orts- und Kreisverkehrswachten und wird vom niedersächsischen Kultusministerium unterstützt. Auch in diesem Jahr soll es wieder stattfinden und die Lücke etwas stopfen, die durch den Ausfall der Radfahrprüfungen an Schulen entstanden ist. Außerdem verteilt die Verkehrswacht kostenlos Hefte für Eltern mit Tipps und Übungen rund um das Fahrradfahren. Zusammen mit den Übungen der Polizei bieten sie eine Grundlage für das sichere Radtraining – selbst für kleinere Kinder.

So entwickeln Kinder ihre Fähigkeiten

Ein gummibereifter Tretroller mit guten Bremsen ist die beste Vorbereitung auf das Radfahren. Lenken, bremsen, Gleichgewicht halten und die eigene Geschwindigkeit einschätzen können Kinder auf dem Roller optimal lernen.

Bevor sie auf das Fahrrad umsteigen, sollten sie Erfahrungen auf dem Laufrad sammeln. Kinder haben ein kleineres Gesichtsfeld und ein geringeres Hörvermögen, langsamere Reaktionszeiten und einen schlechteren Gleichgewichtssinn als Erwachsene.

Eltern können sich an folgende Entwicklungsstufen orientieren. Die Landesverkehrswacht Niedersachsen hat Richtwerte zusammengestellt. Allerdings sind diese nur Richtwerte, denn jedes Kind entwickelt sich anders:

Bis fünf oder sechs Jahre: Kinder bemerken eine Gefahr erst, wenn sie bereits akut gefährdet sind.

Ab acht Jahre: Kinder können Gefahren voraussehen und wissen, durch welche Verhaltensweisen sie in Gefahr geraten. Es gelingt ihnen, Entfernungen richtig zu bewerten. Auf dem Rad können sie gleichzeitig mehrere Handlungen sicher ausführen, zum Beispiel bremsen, den Verkehr beobachten und Handzeichen geben. Sie wissen, wie sie sich an Ampeln und Zebrastreifen verhalten müssen.

Ab zehn Jahre: Kinder können Geschwindigkeiten richtig einschätzen und sind in der Lage, auf ungewohnte Situationen angemessen zu reagieren – etwa, wenn eine Fußgängerampel ausfällt.

Ab 14 Jahre: Kinder können den Straßenverkehr überblicken und sich relativ sicher darin bewegen.