Salzgitter. Doch die Corona-Krise und der E-Bike-Boom haben die Diskussionen rund um den Radverkehr neu angefacht, sagt Ostfalia-Professorin Jana Kühl.

Ihre Berufung hat im November 2020 für viel Echo gesorgt: Als deutschlandweit erste Professorin für Radverkehrsmanagement lehrt Jana Kühl seit Kurzem an der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter. Ihre Studierenden sollen lernen, den Verkehr der Zukunft verknüpft zu planen und strategisch wie auch kommunikativ zu begleiten – oder kurz: den Radverkehr stärker einzubinden. Warum das dringend nötig ist, weshalb der Fahrradboom in der Corona-Krise ihr Hoffnung macht und welche Maßnahmen wir uns von Kopenhagen abschauen sollten, erklärt die 36-jährige Hochschullehrerin im Interview mit unserer Zeitung.

Frau Kühl, Sie sind mitten in der Corona-Krise an die Ostfalia-Hochschule berufen worden – eine Zeit, in der besonders viele Menschen das Fahrradfahren neu- oder wiederentdeckt haben. Die Verkaufszahlen von E-Bikes sind so hoch wie nie. Glauben Sie, dass dieser Umstieg aufs Fahrrad nachhaltig ist und die Pandemie überdauert?

Schwer abzuschätzen, ob es in Gänze so bleibt. Die Anschaffung eines E-Bikes ist eine Investition. Ich denke nicht, dass sich nach Corona ein großer Gebrauchtmarkt auftut, weil gerade E-Bikes ein riesiges Potenzial haben – entspannteres Fahren, größere Reichweiten. Allerdings hängt es auch davon ab, ob die Menschen jetzt auf dem Rad positive Erfahrungen machen. Also, wenn sie merken: Das macht Spaß, das funktioniert. Dann ist die Chance, dass die Leute beim Fahrradfahren bleiben, viel größer, als wenn sie gleich gefrustet sind – weil vieles nicht funktioniert oder man sich im Straßenverkehr gefährdet fühlt. Also müsste eigentlich schon jetzt die Infrastruktur für Radfahrende viel weiter sein, um dieses Umsteige-Potenzial wirklich nutzen zu können.

Einige Städte haben reagiert und auf Autostreifen sogenannte Pop-up-Radwege mit gelben Markierungen und Warnbaken eingerichtet.

Allein das Schaffen von Pop-up-Radwegen ist zu kurz gedacht. Spätestens an der nächsten Kreuzung haben Radfahrende die altbekannten Probleme – wie etwa rechtsabbiegende Fahrzeuge, die die Radspur kreuzen und dabei unter Umständen Radfahrende übersehen. Man muss es schon integriert denken. Grundsätzlich aber, als erste Maßnahme, sind die Pop-up-Wege absolut sinnvoll. Sie haben gezeigt, wie schnell man Platz schaffen kann – wenn man denn wirklich will und es einfach mal macht. Und sie wurden ja auch gut angenommen: Auf einmal ist genügend Raum da zum Radeln, die Baken haben das Sicherheitsgefühl gesteigert. Außerdem wurde wieder mehr diskutiert: Wie sollte eigentlich Radinfrastruktur aussehen? Und wie der Straßenraum aufgeteilt sein?

Denken Sie, dass die Pop-up-Radwege bleiben? Oder noch welche folgen?

Ich fürchte, wir sind noch nicht so weit. Die meisten Wege sind relativ schnell wieder verschwunden, zum Beispiel wegen entsprechender Klagen. Es fehlt noch an Problembewusstsein, an Willen und Einsatz, etwas zu verbessern.

Professorin Dr. Jana Kühl lehrt seit Ende 2020 am Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter.
Professorin Dr. Jana Kühl lehrt seit Ende 2020 am Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter. © Ostfalia | Nadine Zimmer

Erläutern Sie das bitte.

In politischen Debatten wird der Radverkehr immer noch nicht ernstgenommen, mancherorts gelten Radfahrende noch als Öko-Sonderlinge. Das Autofahren ist nach wie vor zu präsent, zu bequem und wird von der Lobby einfach noch zu sehr gepusht, als dass der Radverkehr eine Chance hätte, sich durchzusetzen. Wenn in den Niederlanden der Autoverkehr an irgendeinem Ort zurückgefahren wird, hat das deshalb nicht die Emotionalität wie in Deutschland. Dabei haben wir mittlerweile Lösungen für den Verkehr – man muss nur schauen, wo welche geeignet sind. Sicherlich sind nicht alle Wege mit dem Fahrrad möglich, das ist auch überhaupt nicht Ziel der Debatte. Aber zu viele Menschen denken bei Mobilität noch zu sehr an das Auto und können sich nicht vorstellen, dass sie unter Umständen auch mit dem Fahrrad oder E-Bike gut bedient wären. Vor allem in Kleinstädten wurde die Radverkehrsplanung weitgehend vernachlässigt. Im besten Fall gibt es dort geteilte Fuß- und Radwege, aber oft nicht einmal Fahrradständer vor dem Supermarkt. Man wird an keiner Stelle an das Fahrradfahren erinnert. Bislang scheitert die Verkehrswende daran, dass wir die Dinge nicht konsequent angehen und in die Umsetzung bringen.

Fehlt Politikern und Verwaltungen der Mut? Oder hapert es an anderer Stelle?

Es sind zum einen personelle Kapazitäten. Häufig ist das Knowhow explizit für den Radverkehr nicht vorhanden und muss über Planungsbüros eingekauft werden. Vielfach fehlt es aber auch an Stellen für Fachleute in den Verwaltungen, die sich dem Radverkehr annehmen. Was dazu führt, dass Leute in ihrem sowieso schon vollen Tagesgeschäft dann auch noch Radverkehrsförderung betreiben sollen. Und dann passiert sehr wenig sehr langsam. Zum anderen kommt häufig ein Ausbremsen durch politische Gremien hinzu, die die Vorhaben zu Kompromisslösungen zusammenstreichen. Auch wenn alle möglichen Parteien mittlerweile denken, dass man sich durch Radverkehrsthemen interessant machen kann, glaube ich, dass bei vielen die Angst besteht, Wählerinnen und Wähler zu verprellen, wenn Parkplätze gestrichen oder Straßen umgewandelt werden sollten. Da fehlt einerseits der Mut, in die Vollen zu gehen, andererseits der Wille, grundlegend etwas zu ändern.

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In einem Interview mit der Taz haben Sie erzählt, dass schon Ihre Berufung nicht nur positive Kommentare erhalten hat.

In öffentlichen Foren haben einige Menschen die Professur und meine Person ins Lächerliche gezogen. Ich habe E-Mails bekommen, in denen mich vor allem ältere Personen gefragt haben, wie ich denn auf die Idee käme, den Radverkehr fördern zu wollen – Fahrradfahren sei viel zu gefährlich und doch nur bei gutem Wetter möglich. Darunter waren auch gehässige und angreifende Nachrichten, nach dem Motto: Viel Spaß auf eisglatten Straßen. Ich muss dazu sagen: Es gab auch genauso viele Zusprüche. Allerdings zeigt das, welche Welten bei diesem Thema aufeinanderstoßen. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen muss man ernstnehmen – solange die Menschen nicht ausfallend werden.

Das ist Jana Kühl

Jana Kühl hat Geografie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel studiert. Sie forschte dort und am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund unter anderem zu Alltagsmobilität, urbanem Grün und autonomen Bussen. Zwischen 2016 und 2018 war sie zudem Referentin für Verkehrsplanung und neue Mobilitätsformen beim Nahverkehrsbund Schleswig-Holstein. Zum 1. November 2020 trat sie die Radprofessur in Salzgitter an. Diese gehört zu den sieben Stiftungsprofessuren Radverkehr, die das Verkehrsministerium ausgerufen hat.

Sind diese beiden Lager überhaupt vereinbar?

Ich hoffe es. Als Allererstes kommen die Verunsicherung und die Empörung, wenn man vermeintlich etwas wegnehmen möchte. Aber eigentlich sind die Lösungen nicht dazu da, etwas wegzunehmen, sondern anderes zu ermöglichen. Und anderes heißt: nachhaltige Mobilität einfacher zu machen. In fast allen großen Städten haben wir zur Rushhour extreme Überlastungserscheinungen, weil zur Arbeit pendelnde Personen wegen der mangelnden Infrastruktur mit dem Auto kommen müssen. Der Verkehr ist vielfach am Limit. Das ist sowohl wirtschaftlich als auch für die Lebensqualität problematisch, für Pendelnde wie auch für die Bewohnerschaft. Wir müssen außerdem die klimaverändernden Emissionen reduzieren und dafür sorgen, dass die Luft und der Lärm in den Städten nicht so problematisch sind, dass sie gesundheitsschädliche Einflüsse haben. Dass wir Lebensqualität und Platz gewinnen, wenn wir die nicht mehr angemessenen Privilegien des Autoverkehrs ein Stück weit zurückschrauben, ist erst nachvollziehbar, wenn wir es umsetzen – und die Vorhaben nicht schon vorher an Protesten und Vorbehalten scheitern.

Professorin Jana Kühl auf der Veloroute 10 in Kiel. Zuvor arbeitete sie dort am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität. Durch die Corona-Einschränkungen und den wegfallenden Präsenzunterricht blieb bislang kaum Zeit, die Region zwischen Harz und Heide zu erkunden. Ganz oben auf ihrer Prioritätenliste: das Ringgleis in Braunschweig.
Professorin Jana Kühl auf der Veloroute 10 in Kiel. Zuvor arbeitete sie dort am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität. Durch die Corona-Einschränkungen und den wegfallenden Präsenzunterricht blieb bislang kaum Zeit, die Region zwischen Harz und Heide zu erkunden. Ganz oben auf ihrer Prioritätenliste: das Ringgleis in Braunschweig. © Ostfalia | Matthias Nickel

Ist diese Rechnung tatsächlich so einfach: Bessere Infrastruktur gleich mehr Fahrrad- statt Autofahrer?

Der Zusammenhang ist da. Es gibt Studien, die das immer wieder zeigen. Und wie gesagt: Es fällt zusammen mit einem gewissen Umdenken – dass Menschen überhaupt auf die Idee kommen, aufs Fahrrad zu steigen. Je mehr Leute Rad fahren, desto eher gibt es die Chance, dass sich eine allgemeine Akzeptanz etabliert. Studentenstädte wie Bremen oder Münster haben es grundsätzlich leichter, weil dort bereits eine kritische Masse Fahrrad fährt, die auf den Straßen sichtbar ist, die quasi die Infrastruktur belegt und ein Stück weit einfordert. Es gibt aber auch viele kleinere Städte, Nordhorn oder Bocholt zum Beispiel, in denen es auch so funktioniert hat.

Die Vorzeigestädte im Radverkehrsmanagement befinden sich dennoch in den Nachbarländern: In Amsterdam, Utrecht oder Kopenhagen ist das Pendeln mit dem Fahrrad ganz normal – dort ist die Radfahrquote teils doppelt so hoch wie hier. Was können wir uns von diesen Städten abschauen, auf kurze wie auf lange Sicht?

Die Niederlande haben sehr früh und konsequent daran gearbeitet, ein sehr gutes Radverkehrsnetz aufzubauen. Es gibt Radschnellwege, die komfortabel ausgebaut sind, geräumt und gepflegt werden. Groningen, Eindhoven oder Utrecht sind darauf ausgerichtet, dass die Menschen mit dem Fahrrad kürzere Wege haben. Das würde für unsere Städte oft bedeuten, dass wir sehr viel umbauen und die Regelung des Verkehrsflusses ändern müssten. Kopenhagen ist kurzfristig schon eher erreichbar für uns.

Wieso das?

Die Stadt hat noch nicht das komplett erschlossene Radverkehrsnetz wie die Niederlande, aber an vielen Stellen – dort, wo es wichtig ist – für Sicherheit und Platz gesorgt. Zum Beispiel durch die Ampelschaltungen, Aufstell- und Abstellflächen an Kreuzungen oder dass ein Bordstein zwischen der Straße und dem Fahrradstreifen ist. Das sind keine völlig abstrusen Maßnahmen, sondern Schritte, die in kurzer Zeit realisierbar sind. Vieles davon wird auch hier schon gemacht.

In Kopenhagen können sich Radfahrende auf vielen Wegen überholen, weil die Fahrradstreifen auch mal zwei Meter breit sind. Ist das überall umsetzbar?

Es kommt immer darauf an, wie vor Ort der Straßenquerschnitt ist. In einer klassisch-autogerechten Stadt, in der die Straßen mehrere Fahrspuren haben und sehr breit sind, besteht recht einfach die Möglichkeit, im Straßenraum mehr Platz zu schaffen. Das hat den Vorteil, dass durch wenige Investitionen viel erreicht wird. Wenn man einen Fahrstreifen für den Radverkehr nimmt und diesen durch physische Barrieren sichert – durch Poller oder Baken, da gibt es verschiedene Möglichkeiten – dann hat man einen sicheren Raum geschaffen und gleichzeitig ist das Radfahren dort in unterschiedlichen Geschwindigkeiten möglich, weil man sich überholen kann. Das reduziert Konfliktpotenziale und man kann auch mit Lastenrädern oder Kinder-Anhängern ziemlich gut fahren. Wenn wir den breiten Straßenquerschnitt nicht haben, müssen wir uns andere Lösungen überlegen. Da können wir unter Umständen keine Spur wegnehmen, ohne größere Konsequenzen im Autoverkehr auszulösen.

Radfahrende in Kopenhagen

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    Was für Möglichkeiten gibt es dann? Radwege auf den Gehweg zu verlagern?

    Gerade Kinder und Eltern haben das wahrscheinlich lieber. Das ist aber nicht die ultimative Lösung, Fußgängerinnen und Fußgänger sollen ja schließlich auch nicht beschnitten werden. Manchmal kann es helfen, in Nebenstraßen die Geschwindigkeit rauszunehmen, im Idealfall Fahrradstraßen oder ganze Fahrradzonen einzurichten. So nimmt man dem Autoverkehr erst einmal nichts weg, macht aber das Radfahren etwas sicherer und angenehmer. Wichtig sind auch Wegenetze abseits des Straßenverkehrs, also Schleichwege oder landwirtschaftliche Nutzwege. Die bieten ein großes Potenzial, sind aber häufig nicht bekannt, nicht durchgängig oder kaum ertüchtigt.

    Halten wir fest: Es gibt aus Ihrer Sicht einiges zu tun – in den Köpfen und bei der Infrastruktur.

    Wir brauchen auf jeden Fall ein Konzept, eine Vorstellung: Wo starten wir? Das ist hier in Salzgitter anders als in Bremen oder Münster. Und: Wo soll es hingehen, wo ist was zu tun? Veränderungen zu erzwingen, die Leute zu ‚überfahren‘ und ihnen irgendetwas vorzusetzen, mit dem sie nichts anfangen können – das hilft nicht. Allerdings muss man hier und da sicherlich mal ohne Kompromisse voranpreschen. Denn der beste Plan bringt nichts, wenn wir jetzt nicht in die Umsetzung gehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir an einem Wendepunkt sind. Zwar sind in der Corona-Krise vor allem ÖPNV-Nutzende aufs Fahrrad gewechselt, im Freizeitbereich aber ebenso manche Autofahrende. Unter Umständen können die jetzt eher nachvollziehen, welche Bedürfnisse die Radfahrenden haben. Durch Corona ist eine neue Dynamik reingekommen.

    Alles rund ums Rad- Die große Serie „Fahrradwochen“

    Touren, Radgeschichten und Trends aus der Fahrradwelt: In unserer großen Fahrradserie dreht sich alles ums Zweirad. Unsere Redaktion stellt die schönsten Radtouren zwischen Harz und Heide vor. Wir erklären, welche Routen sich in der Region besonders lohnen, und welche Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke warten: Das kann eine familienfreundliche Strecke sein, oder aber eine anspruchsvollere Tour, die Kondition erfordert. Außerdem geben unsere Autorinnen und Autoren Tipps zu Ausrüstung und Fahrradkauf und porträtieren Menschen, die eine besondere Bindung zu ihrem Zweirad haben. Alle Geschichten unserer Fahrradserie finden Sie auf unserer Themenseite – mit viel Zusatzmaterial wie Bildern, Videos, interaktiven Karten und GPX-Daten.