Braunschweig. In Braunschweig wurden bei Gerichtsverhandlungen etliche Details erwähnt. Außerdem gibt es einen neuen Vergewaltigungsverdacht bezüglich einer Irin.

Im November erreicht ein Brief unsere Redaktion. In gewandter Sprache und akribischer Schrift beklagte ein Braunschweiger Untersuchungshäftling, dass ihm Justizunrecht widerfahre. Er würde es begrüßen, wenn die Presse die Verhandlung gegen ihn verfolgen würde und die Öffentlichkeit von der Willkür der hiesigen Behörden erführe. Die Vorgehensweise könne nicht mehr im Interesse der Bevölkerung liegen.

Wer da auf die Unterstützung der Öffentlichkeit gehofft hat, steht seit einigen Tagen unter ganz anderen Vorzeichen im Zentrum medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit – der als Kindermörder verdächtigte 43 Jahre alte mutmaßliche Entführer der dreijährigen Maddie, der seinen letzten Wohnsitz in Braunschweig hatte. Und der jeweils in der Nähe lebte, als 1995 in Portugal und im Mai 2015 in Magdeburg zwei weitere Kinder spurlos verschwanden.

Mit seinem Vorwurf an die Justiz, dass sie nicht rechtmäßig vorgegangen sei, könnte der heute 43-Jährige sogar Recht bekommen. Im Hintergrund seines noch nicht rechtskräftigen Verfahrens wegen der Vergewaltigung einer 72-Jährigen im portugiesischen Praia da Luz im Jahr 2005 schwelen bis heute juristische Fragen um seine Auslieferung aus Portugal, die der Bundesgerichtshof im April dem Europäischen

Staatsanwalt Hans Christian Wolters in der vorigen Woche. Zum aktuellen Verdacht aus Irland möchte er sich nicht äußern.
Staatsanwalt Hans Christian Wolters in der vorigen Woche. Zum aktuellen Verdacht aus Irland möchte er sich nicht äußern. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Gerichtshof zur Klärung vorgelegt hat. Im Kern geht es darum, ob dem Mann vor dem Braunschweiger Landgericht der Prozess gemacht werden durfte, obwohl sich der europäische Haftbefehl, mit dem das Auslieferungsbegehren der deutschen Justiz an Portugal begründet wurde, auf ein anderes Strafverfahren bezogen hatte. Oder ob sich dieses Rechtsproblem mit seinem Abstecher in die Niederlande im Jahr 2018 auslieferungsrechtlich erledigt hatte.

Reichen die Beweise für U-Haft?

Zurzeit befindet sich der 43-Jährige in deutscher Strafhaft wegen eines Drogendeliktes. Zwei Drittel dieser Strafe hatte er am 7. Juni verbüßt. Ein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung liegt vor und wird geprüft. Doch auch wenn er diese Strafe voll verbüßen muss, stellen sich zwei Fragen: Kann der darüber hinaus erlassene Haftbefehl wegen Vergewaltigung, der nach der Haftverbüßung zum Tragen käme, angesichts der bestehenden auslieferungsrechtlichen Unklarheiten aufrechterhalten werden? Oder reichen bis dahin die Beweise für eine Untersuchungshaft im Fall Maddie?

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    Von einer baldigen Freilassung indes geht man in Braunschweiger Justizkreisen nicht aus. Denn je nach Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Auslieferungsfrage könne Deutschland an Portugal, wie es heißt, ein Nachtragsersuchen stellen, den europäischen Haftbefehl auf das Vergewaltigungsverfahren auszuweiten.

    Einmal hatte es zwischen zwei Inhaftierungen eine solche Panne jedoch bereits gegeben. Ende August 2018 musste der im Fall Maddie bereits Verdächtigte wegen einer verspäteten Reaktion der Justiz freigelassen werden und wurde, da er als gefährlich eingestuft wurde, bis zu seiner nächsten Verhaftung für einige Wochen rund um die Uhr von Polizeibeamten observiert.

    Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der öffentliche Zeugenaufruf die Mordermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft im Fall Maddie voranbringt. Sollte sich ein dringender Tatverdacht erhärten und für einen Haftbefehl ausreichen, käme der 43-Jährige ebenfalls nicht frei. Doch ist er der Täter? Wenn das Bedürfnis auch groß ist, den Fall Maddie nach 13 Jahren endlich aufzuklären, so gilt mit Blick auf den aktuellen Tatverdächtigen nach wie vor die Unschuldsvermutung. Am Ende braucht es Beweise, um den Verdacht zu erhärten. Hoffnung setzen die Ermittler seit der vergangenen Woche in die Mithilfe der Bevölkerung und möglicher Zeugen, deren Beobachtungen auf eine Täterschaft des 43-Jährigen hindeuten könnten.

    Im Prozess vor dem Braunschweiger Landgericht, in dem es im vergangenen Dezember um den Raubüberfall und die Vergewaltigung einer 72-Jährigen in ihrem Haus im portugiesischen Praia da Luz im Jahr 2005 ging, bemühte sich der 43 Jahre alte Angeklagte, der auch im Fall Maddie tatverdächtig ist, darum, den Eindruck zu zerstreuen, sexuellen Neigungen in Richtung Sadismus, Kinder- und Tierpornografie zu haben.

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      Ein Zeuge aus seinem früheren Bekanntenkreis dagegen berichtete vor dem Landgericht, im Haus des Angeklagten an der portugiesischen Algarve eben solche selbstgebrannten CDs entdeckt zu haben. Zwei andere Zeugen beschrieben im Prozess detailliert, im Haus auf zwei Videoaufnahmen gestoßen zu sein, auf denen der Angeklagte in Vergewaltigungsszenen zu sehen gewesen sei, die sie nicht für gespielt hielten. Einmal soll es sich um eine an einem Holzpfahl im Haus gefesselte Jugendliche und ein andermal um eine ältere Frau gehandelt haben. Am Schluss, so berichtete es ein Zeuge, habe er der Älteren ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.

      Doch diese Videos sind verschwunden. Der Angeklagte bestreitet die Existenz solcher Aufnahmen.. Beim Abgleich mit unaufgeklärten Altfällen stießen die Ermittler allerdings auf ein Vergewaltigungsopfer, das zwar wohl nicht auf den beschriebenen Video zu sehen war, bei dem der Täter aber nach ähnlichem Muster vorgegangen ist. Ein am Tatort, auf dem Laken im Schlafzimmer des Opfers, sichergestelltes Körperhaar wurde eindeutig dem 43-Jährigen zugeordnet.

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      Das Braunschweiger Landgericht verurteilte den Mann, der seinen letzten Wohnsitz in Braunschweig hatte, unter Einbeziehung einer anderen Vorstrafe zu sieben Jahren Haft. Der Angeklagte hat dagegen Revision eingelegt. Nun beschäftigen Bundesgerichtshof und der Europäische Gerichtshof die Rechtsfragen um die Auslieferung.

      Drei Stapel mit Pässen

      Was sagten Zeugen vor Gericht über den Mann, auf den der ungeheure Verdacht lastet? Ein 52-Jähriger erzählte, er habe ihn Anfang der 2000er-Jahre in einer Kneipe kennengelernt. Die gemeinsame Sprache habe sie verbunden, gelegentlich hätten sie sich in einer Kneipe oder einem Café getroffen. „Das war keine innige Freundschaft. Man hat sich hier und da mal gesehen. Der Angeklagte war so nett, mit bei Autoreparaturen zu helfen.“

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        Soweit er das mitbekommen habe, habe er kein festes Arbeitsverhältnis und kein festes Einkommen gehabt und in einem etwas abseits gelegenen Haus gewohnt. Bei einem Besuch seien ihm drei Stapel mit Pässen aufgefallen. Sonst habe „Junggesellenchaos“ geherrscht, „aber die Pässe waren auffällig“. Der Angeklagte soll ihm erklärt haben, die Pässe habe er bei „nächtlichen Spaziergängen“ an sich genommen. Gestohlene Pässe?, fragte die Vorsitzende Richterin. Der Zeuge: „Das war in diesem Kontext naheliegend, dass sie nicht auf der Straße lagen.“

        Die Vorsitzende: „Hat er Details genannt?“ Der Zeuge: „Er ist wohl durch offene Fenster in die eine oder andere Ferienwohnung eingestiegen. Mehr wollte ich nicht wissen. Wir haben nie direkt über seine Einkünfte gesprochen.“ Er könne nur vermuten, dass er nicht nur Pässe, sondern auch Geld genommen habe. Einmal habe er auch davon gesprochen, an Fassaden hochgeklettert zu sein.

        Als der Angeklagte inhaftiert wurde, habe er ihn gebeten, Dinge aus dem Haus in Praia da Luz zu einem Bekannten zu bringen. Da seien ihm einige selbstgebrannte CDs mit Beschriftungen über bestimmte sexuelle Praktiken aufgefallen. Er habe sie nur oberflächlich angeschaut und weggeworfen. Im Gegensatz zu seinem Lebensstil sei B. ein Glücksritter gewesen, der auch einen vergleichsweise teuren Wagen gefahren habe. „Ich meine, er fuhr einen Jaguar. Ich würde es ein Protzauto nennen.“ Er sei sehr gepflegt herumgelaufen. Den Zustand seiner Wohnung dagegen beschreibt der Zeuge „zwischen Messie und unaufgeräumt“. Ob der Angeklagte selbst von Kletteraktionen gesprochen habe, fragte der Verteidiger. Die Antwort des Zeugen: „Ich kann mich im Detail nicht an jeden einzelnen Wortlaut erinnern.“

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        Der 43-Jährige überlässt die Verteidigung nicht allein seinem Anwalt, er stellt selbst Fragen an Zeugen und gibt Statements ab. Der Angeklagter zum Zeugen: „Ich hab’ ein paar Fragen, kann ich dich duzen?“ Der Zeuge: „Klar, haben wir vorher ja auch.“ Angeklagter: „Hast du mich mal als gewalttätig erlebt?“ Zeuge: „Gewalttätig nicht, ein bisschen verrückt, wie wir damals waren.“ Angeklagter: Ich war ziemlich bekannt damals in Lagos, nicht?“ Zeuge: „Dein Äußeres war auffällig, ich denke schon, dass man dich gekannt hat, unter den Deutschen zumindest.“ Angeklagter: „War ich hilfsbereit?“ Zeuge: „Ich hab dich als hilfsbereit und umgänglich in Erinnerung. Du hast mit beim TÜV geholfen, wir waren auf einer Linie.“ Angeklagter: „Tierpornos sind übel. Hast du die wirklich bei mir gesehen?“ Zeuge: „Ich kann mich an eine CD mit einer Brasilianerin mit Hund erinnern.“ Angeklagter zweifelnd: „Aus hundert CD’s hast du eine mit dem Hund gefischt?“

        „Das war ziemlich eindeutig“

        Ein anderer Bekannter aus der Portugal-Zet spricht von davon, dass es keine Freundschaft, sondern eher ein Notzusammenhalt gewesen sei. Der Angeklagte habe „Hotels gemacht.“ In dessen Wohnung habe er die ganzen Sachen gesehen, Foto- und Videokameras – „was man so mitnimmt. Das war ziemlich eindeutig.“ Er habe auch mal von Kletterei gesprochen und erzählt, er sei mal wo reingekommen, wo jemand gepennt habe. Auch die Vergewaltigungsvideos will dieser Zeuge gesehen haben.

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        Fünf Tage nach der Vergewaltigung der 72-Jährigen im September 2005 soll der Angeklagte seine Rückkehr nach Deutschland angekündigt haben. „Hallo Mädels, wie die Zeit vergeht“, schrieb er Bekannten in einer E-Mail, die im Prozess verlesen wurde. Er habe sich von seiner Freundin getrennt und werde in Deutschland seine Traumfrau kennenlernen. 2006 muss er zurück in Portugal gewesen sein. Bis Dezember 2006 saß er dort in Haft wegen Diesel-Diebstahls.

        Mit Machete in der Hand?

        Und die Einbrüche in Hotels und Ferienanlagen, die Bekannte vermuten? Die Fassadenkletterei? „Das haben Sie nicht gemacht?“, fragte die Staatsanwältin. „Wenn ich jetzt Nein sage, wird es nicht geglaubt“, so die Antwort des Angeklagten. Die Frage beantworte er nicht. Die Reisepässe, von denen Zeugen sprachen, will er als Hehlerware von osteuropäischen Arbeitern auf Kommission zum Weiterverkauf bekommen haben.

        Das Vorstrafenregister des 43-Jährigen enthält Diebstähle, Drogenhandel, aber auch Widerstand, Körperverletzung und zwei Strafen wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes, einmal auch verbunden mit Kinderpornografie. Alles Fälle, die vor Amtsgerichten verhandelt wurden. Vor einer großen Strafkammer eines Landgericht saß er erstmals in Braunschweig.

        Wie „Focus Online“ unter Berufung auf den britischen „Guardian“ am Dienstag berichtete, soll sich unterdessen ein weiteres potenzielles Vergewaltigungsopfer des 43-Jährigen bei der Polizei in London gemeldet und gebeten haben, ihren Fall neu aufzurollen. Die irische Frau soll 2004 nachts in ihrer Wohnung in Portugal überfallen worden sein. Als sie im Zusammenhang mit Maddies Verschwinden von dem Verdächtigen erfahren habe, der 2005 eine damals 72-Jährige US-Amerikanerin vergewaltigt haben soll, habe sie das Vorgehen des Täters an ihre eigene Vergewaltigung erinnert. Der Täter habe eine Maske getragen und eine Machete in der Hand gehalten. Medienberichten zufolge soll er Englisch mit deutschem Akzent gesprochen haben. Die Irin habe das Verbrechen damals bei der Polizei angezeigt.

        In ihrem Zeugenaufruf zu den Mordermittlungen im Fall Maddie erbitten das Bundeskriminalamt und die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ausdrücklich auch Hinweise auf Opfer weiterer Sexualstraftaten, die der Verdächtige begangen haben könnte. Den aktuellen Hinweis bezüglich der Frau aus Irland kommentiert die Braunschweiger Justizbehörde auf Anfrage unserer Zeitung nicht.