Braunschweig. Die Kitas sollen stufenweise wieder geöffnet werden. Doch das wird vielen Müttern und Vätern nicht helfen.

Wenn Wolfgang Kraemer am Kummertelefon sitzt, bekommt er Geschichten wie diese zu hören: Eine Mutter, alleinerziehend mit kleinen Kindern, arbeitet als Reinigungskraft in Braunschweig. Einen Platz in der Notbetreuung der Kita hat sie in der Corona-Krise nicht bekommen. Also hat sie Sonderurlaub nehmen müssen, um auf ihre Kinder aufzupassen. „Wenn dieser ausläuft, weiß sie nicht weiter“, sagt Kraemer. Wird sie ihre Kinder wieder in die Kita schicken können, wenn die Notbetreuung erweitert wird? Wird sie ihre Arbeit verlieren?

Wolfgang Kraemer ist stellvertretender Vorsitzender des Ortsverbands alleinerziehender Mütter und Väter in Braunschweig. Täglich klingelt bei ihm derzeit das Telefon, in der Leitung sind dann häufig Eltern, die sich um das Wohl ihrer Kinder sorgen oder nicht mehr wissen, wie sie den Alltag bewältigen sollen. Kraemer nennt ein weiteres Beispiel: Eine Mutter, die als Dozentin tätig ist, arbeitet derzeit im Homeoffice. An Telefon- oder Videokonferenzen kann sie sich kaum beteiligen, weil ständig ihr fünfjähriger Sohn dazwischen platzt. Sich um das Kind kümmern, aufräumen, kochen – das läuft alles nebenbei. Viele Eltern haben daher das Gefühl, weder ihren Kindern, noch dem Beruf gerecht werden zu können. Wie lange hält man das noch durch? Viele Fragen, viele Unsicherheiten, viel Verzweiflung.

„Bei einigen Familien war auch häusliche Gewalt im Spiel“, sagt Kraemer. Wenn es nach ihm und anderen Vertretern des Verbandes geht, sollten die Kitas lieber heute als morgen wieder öffnen. Oder zumindest die Kinder Alleinerziehender zwingend in die Notbetreuung aufnehmen – egal, ob die Mutter oder der Vater in einem systemrelevanten Beruf arbeitet oder nicht. „Die Situation spitzt sich zu.“

Tatsächlich scheint es für viele Eltern nun ein Licht am Horizont zu geben. Anfang voriger Woche hat das Land Niedersachsen einen „Phasenplan-Kita“ vorgestellt, nach dem die Betreuung in den Einrichtungen bis Juni schrittweise auf 50 Prozent erweitert wird. Doch eine Rückkehr zum Regelbetrieb wird es erst nach den Sommerferien geben – vorausgesetzt die Entwicklung der Infektionszahlen lässt es zu. „Es bleibt dabei: Das Virus ist nicht weg!“, warnt Kultusminister Grant Hendrik Tonne. Der Gesundheitsschutz der Kinder und der Beschäftigten habe oberste Priorität. „Daher ist auch klar, dass die Öffnungen keinen Normalbetrieb bedeuten.“ Vorerst werde es nur kleinere Gruppen geben können.

Die Frage, wer Anspruch auf einen Platz in der Notbetreuung hat, ist daher nicht leicht zu beantworten. Die Stadt Braunschweig etwa hat derzeit mit mehr als 750 Kindern in Kitas und Kindertagespflege eine Betreuungsquote von acht Prozent erreicht. In den nächsten Tagen werde die Notbetreuung ausgeweitet, heißt es. Darüber, wer einen Platz bekommt, bestimmen die Träger. Einen Rechtsanspruch gibt es nicht.

„Der Phasenplan ist ein guter erster Schritt“, sagt Christine Heymann-Splinter von der Landeselternvertretung der Kindertagesstätten in Niedersachsen. Aber eine einheitliche landesweite Regelung gebe es nicht, oft blieben die Bedürfnisse der Eltern und der Kinder außen vor.

Auch Dirk Bitterberg vom Vorstand des Awo-Bezirksverbands Braunschweig wünscht sich eine konkretere Priorisierung bei den Aufnahmekriterien. Die Arbeiterwohlfahrt ist Träger von mehr als 30 Kitas und Betreuungseinrichtungen zwischen Harz und Heide. Besonders gefährdete oder förderbedürftige Kinder sollen den Empfehlungen zufolge ebenso berücksichtigt werden wie etwa die Kinder von Eltern, die in systemrelevanten Berufen arbeiten oder denen ein Jobverlust droht. Doch es gibt erheblichen Interpretationsspielraum.

Um einen Überblick über die Bedürfnisse von Eltern zu bekommen, hatte die Landeselternvertretung Ende April eine Umfrage gestartet, rund 46.700 Mütter und Väter beteiligten sich, davon mehr als 1100 aus unserer Region. Seit voriger Woche liegen die Ergebnisse vor.

Danach hatten bislang landesweit 10,5 Prozent der Eltern eine Notbetreuung in Anspruch genommen, obwohl es schon im April erste Lockerungen gab. Diese geringe Zahl resultiert daraus, dass fast die Hälfte der Befragten angab, keinen Anspruch auf eine Notbetreuung zu haben.

Rund 9 Prozent waren von Kurzarbeit betroffen, etwa 8 Prozent haben ihre Arbeitszeit reduziert, rund 31 Prozent der Befragten betreuten ihre Kinder, während sie im Homeoffice arbeiteten. Eine Situation, die der Elternvertretung zufolge sehr belastend ist. Aus diesem Grund fordern insbesondere genau diese Eltern eine schnellstmögliche Öffnung der Kitas noch vor den Sommerferien. 73 Prozent der Eltern sprachen sich dafür aus.

Doch selbst wenn die Kitas nun schrittweise wieder geöffnet werden, fangen viele Probleme erst an. Das Land hat inzwischen einen Rahmen-Hygieneplan vorgelegt, der einige Eckpunkte festlegt, wie für Infektionsschutz in den Einrichtungen gesorgt werden soll: So wird die Betreuung in möglichst kleinen und konstant zusammengesetzten Gruppen mit festen Bezugserziehern empfohlen, auch regelmäßiges Desinfizieren und Händewaschen. Bewegung und Singen in geschlossenen Räumen sollte vermieden werden, Tische in Gemeinschaftsräumen sind zu entzerren; eine Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes besteht nicht. Bei Kindern wird eine Behelfsmaske sogar ausdrücklich abgelehnt, weil sie noch gar nicht damit umgehen könnten.

Schon jetzt hätten Kitas für die Notbetreuung Schutzvorkehrungen getroffen, sagt Dirk Bitterberg vom Awo-Bezirksverband. Zum Beispiel müssten die Eltern beim Abholen einen Mundschutz tragen, es gebe eine Schleuse an den Eingängen und Desinfektionsspender. „Das Bringen und Abholen ist ein Risiko“, sagt Bitterberg. Die stufenweise Rückkehr zum Regelbetrieb dürfe kein Experiment auf Kosten des Personals werden. Denn wer mit kleinen Kindern arbeite, die engen Kontakt brauchen, könne keine Schutzausrüstung tragen und auch keine Abstandsregeln einhalten. Wünschenswert wäre es, wenn es deshalb für Fachkräfte in den Kitas regelmäßige Corona-Tests gebe.

Die Eltern stehen dagegen noch vor anderen Ungewissheiten: Was ist mit den Kindern, die monatelang keine Kita von innen gesehen haben, keinen Kontakt zu den Erziehern hatten? Sie könnten nicht einfach zurückgeschickt werden, als sei gar nichts geschehen, ist Christine Heymann-Splinter von der Landeselternvertretung der Kitas überzeugt. „Wie soll die Eingewöhnung funktionieren, wenn Eltern ihre Urlaubstage aufgebraucht haben?“ Von Normalität könne auch bei der Rückkehr zum Regelbetrieb noch lange nicht die Rede sein.