Braunschweig. Interview: Christian Claussen und Xinyuan Liu sprechen über Chinesen in unserer Region, deutsche China-Kompetenz – und Corona-Ängste.

China ist für die meisten Deutschen eine Terra incognita. Während das Reich der Mitte einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands ist, blicken wir nach wie vor mit einem fremden Blick auf das Land. Während viele Berichte aus der Volksrepublik – der Umgang mit den Hongkong-Protesten, die staatliche Überwachung, die Umerziehungslager sind nur einige – Sorgenfalten hervorrufen, kritisiert der Braunschweiger China-Kenner Christian Claussen, die „China-Kompetenz“ hierzulande sei gering. Über das Verhältnis beider Völker und darüber, wie es Chinesen in unserer Region in Coronavirus-Zeiten geht, sprachen wir mit Claussen und dem Wolfsburger Chinesen Xinyuan Liu.

Herr Liu, erkundigen sich Ihre Kollegen seit Beginn der Corona-Epidemie öfter nach Ihrer Gesundheit?

Liu: (Lächelt) Naja, einige meiner Arbeitskollegen haben sich – immer sehr nett – schon erkundigt und gefragt: Wie sieht’s bei deiner Familie aus, ist alles in Ordnung? Dazu muss ich sagen, dass ich aus der Nähe von Peking stamme. Das ist weit weg von Wuhan, der am stärksten vom Coronavirus gebeutelten Stadt. Daher sind meine Verwandten in China überhaupt nicht von der Krankheit betroffen. Aber die freundlich besorgten Nachfragen meiner Kollegen habe ich trotzdem als positiv empfunden.

Letzte Woche wurde berichtet, dass sich die chinesische Botschaft sorgt, dass chinesische Bürger hierzulande ausgegrenzt oder angefeindet werden könnten.

Christian Claussen (59, rechts) hat sieben Jahre im Dienste von VW in China verbracht. Heute sitzt der Braunschweiger der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft Braunschweig vor. Xinyuan Liu (42, links) kam erstmals im Jahr 2000 für sein BWL-Studium nach Deutschland. Heute arbeitet er als Führungskraft in der IT-Sparte bei Volkswagen und lebt mit seiner Familie in Wolfsburg. Er hat insgesamt bereits zwölf Jahre in Deutschland gelebt. Beide betonen, im Interview „ausschließlich als Privatpersonen“ zu sprechen.
Christian Claussen (59, rechts) hat sieben Jahre im Dienste von VW in China verbracht. Heute sitzt der Braunschweiger der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft Braunschweig vor. Xinyuan Liu (42, links) kam erstmals im Jahr 2000 für sein BWL-Studium nach Deutschland. Heute arbeitet er als Führungskraft in der IT-Sparte bei Volkswagen und lebt mit seiner Familie in Wolfsburg. Er hat insgesamt bereits zwölf Jahre in Deutschland gelebt. Beide betonen, im Interview „ausschließlich als Privatpersonen“ zu sprechen. © BestPixels.de | Philipp Ziebart

Liu: Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber ich habe keine negativen Erfahrungen gemacht.

Claussen: Auf die Anfrage eines anderen Journalisten habe ich letzte Woche eine kleine Umfrage unter chinesischen Mitgliedern unseres Vereins, der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft Braunschweig, gemacht. Auch da war die Antwort ganz klar: Nein, es gab keine Stigmatisierung oder Diskriminierung. Man hört von Chinesen sogar immer wieder das Gegenteil: Wir fühlen uns von den Deutschen sehr gut aufgenommen.

Wie sehen die hier lebenden Chinesen den Umgang der Deutschen mit dem Virus – als sorglos oder als hysterisch?

Liu: Dass man sich vor etwas Unbekanntem wie diesem neuen Virus fürchtet, finde ich erst mal ganz trivial. Den Wunsch, sich zu schützen, kann ich gut nachvollziehen. Andererseits müssen die Leute transparent und gut informiert werden. Nur so ist es möglich, ungerechtfertigte Ängste abzubauen. Kritisch sehe ich es aber, wenn Leute, die wenig Ahnung vom Thema haben, Ängste oder Stimmungen schüren. Das ist verantwortungslos – erst recht aus Sicht der Betroffenen.

Herr Claussen, zeigen sich am Beispiel des Coronavirus kulturelle Missverständnisse zwischen Deutschen und Chinesen?

Claussen: Im Sinne von Ursache und Wirkung ist das bestimmt nicht der Fall – vielleicht aber mittelbar. Ein Beispiel hierfür ist der Gebrauch von Atemmasken. Als ich während meiner Zeit in China Menschen mit Mundschutz sah, fragte ich mich: Mein Gott, was mag denn hier bloß in der Luft herumfliegen? Heute weiß ich: Die Masken werden im asiatischen Raum vielfach getragen, um andere zu schützen, wenn man selbst einen Infekt hat. In einer dicht vollgedrängten U-Bahn wird es als Frage der Höflichkeit und des Respekts betrachtet, einen Mundschutz zu tragen, wenn man einen Schnupfen hat.

„Bekannte von mir, die vor Kurzem aus China zurückgekehrt sind, haben sich freiwillig in Quarantäne begeben“, berichtet der Wolfsburger Chinese Xinyuan Liu.
„Bekannte von mir, die vor Kurzem aus China zurückgekehrt sind, haben sich freiwillig in Quarantäne begeben“, berichtet der Wolfsburger Chinese Xinyuan Liu. © BestPixels.de | Philipp Ziebart

Liu: Ich kann dies nur bestätigen. Uns Chinesen ist sehr wichtig, dass sich unser Gegenüber keine Sorgen machen muss. Ein Beispiel: Bekannte von mir, die vor Kurzem aus China nach Deutschland zurückgekehrt sind, haben sich freiwillig für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Ich glaube, diese Art Rücksicht ist ein typisches Verhalten für uns Chinesen.

Kulturelle Missverständnisse lassen sich ausräumen, wenn man miteinander redet. Stimmt mein Eindruck, dass die Chinesen in unserer Region eher unter sich bleiben?

Liu: Wir Chinesen sind sehr gemeinschaftsorientiert. Die gemeinsame Sprache, die gemeinsamen Traditionen verbinden natürlich. Dass etwa die chinesischen Studenten und Wissenschaftler der TU Braunschweig sich in einem eigenen Verein organisiert haben, kommt nicht von ungefähr. Man unternimmt viel zusammen, feiert etwa das chinesische Neujahrsfest. Auf der anderen Seite kenne ich viele Chinesen, die hier länger leben und sich durchaus integrieren wollen. Natürlich möchte ich, dass meine Kinder, die hier aufwachsen, meine Heimatkultur kennenlernen. Aber ich lege auch großen Wert darauf, dass meine Familie und ich Teil der deutschen Gesellschaft sind und entsprechend am gesellschaftlichen Leben hier teilnehmen.

Wie ist es bei den Chinesen, die kürzer hier sind?

Liu: Auch bei denen gibt es den Wunsch nach Kontakt und Austausch. Viele sind allerdings nur wenige Monate hier, etwa auf Dienstreise. Da ist es schon schwierig – zum einen durch die Sprachbarriere, zum anderen durch die gegenseitige Fremdheit der Kulturen.

„Mehr China-Kompetenz gibt uns die Chance, nicht länger auf alten Stereotypen herumzureiten“, meint Christian Claussen, Präsident der Deutsch-Chinesische Gesellschaft Braunschweig.
„Mehr China-Kompetenz gibt uns die Chance, nicht länger auf alten Stereotypen herumzureiten“, meint Christian Claussen, Präsident der Deutsch-Chinesische Gesellschaft Braunschweig. © BestPixels.de | Philipp Ziebart

Claussen: Den wesentlichen Kulturunterschied sehe ich in der Gewichtung zwischen Individuum und Gemeinschaft – erkennbar zum Beispiel an Produktnamen: Der meistgenutzte chinesische Messengerdienst heißt „Wechat“, also „Wir chatten“. Wir in den westlichen Ländern dagegen telefonieren mit dem „I-Phone“ oder surfen mit dem „I-Pad“ durchs Netz. Hier liegt die Betonung auf „Ich“. Aber obwohl die Chinesen sehr gruppenbezogen sind, muss man sagen: Es gibt, anders als bei anderen Gruppen, keinerlei Ghettoisierung. Die Chinesen hier leben verstreut in normalen deutschen Wohnvierteln. Das hängt ganz bestimmt auch damit zusammen, dass die meisten von ihnen ein sehr hohes Bildungsniveau haben. Viele sind Ärzte, Unternehmer oder Freiberufler. Und sie sprechen überwiegend hervorragend Deutsch. Kurz: Sie sind toll integriert.

Herr Liu, über Chatgruppen bei besagtem Dienst „Wechat“ – mit teils mehr mehreren Hundert Teilnehmern – stehen Sie permanent in Kontakt zu anderen Chinesen in der Region. Welche Themen treiben Ihre Landsleute um?

Liu: Das ist sehr unterschiedlich. Natürlich werden die neuesten Nachrichten aus China diskutiert. Aber auch Sonderangebote, Fernsehsendungen oder Lieder, die man gehört hat. Manchmal hat jemand auch eine Frage zur Krankenversicherung. Ebenso von Interesse ist die politische Situation in Deutschland. Die Lage in Thüringen oder der Rücktritt von AKK werden aufmerksam verfolgt und heiß diskutiert. Dass wir uns mit dem beschäftigen, was in Deutschland passiert, finde ich sehr wichtig. Schließlich leben wir hier.

Was erwarten Chinesen, wenn sie nach Deutschland kommen?

Liu: Das hängt natürlich vom Einzelfall ab und davon, zu welchem Zweck man kommt. Mein erster Aufenthalt hier war als Student. Da war mein Ziel, so schnell wie möglich mein Studium abzuschließen und nebenbei die wichtigen Sehenswürdigkeiten in ganz Europa zu besuchen. Dann wiederum gibt es die Geschäftsleute: Denen geht es um die Stärkung der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen unseren Ländern.

Mit welchen Bildern im Kopf kommen Chinesen hierher? Und halten diese Bilder der Realität stand?

Liu: Meine Erwartung war, dass es im hochtechnisierten Deutschland viele Städte mit Wolkenkratzern gibt – ähnlich wie ich sie aus dem Fernsehen von den USA kannte. Bei meinem ersten Deutschkurs in Frankfurt sah ich mein Bild noch bestätigt. Aber spätestens als ich mein Studium in Fulda aufnahm, musste ich feststellen, dass das Frankfurter Bankenviertel die Ausnahme ist und nicht die Regel. Ein anderer Aspekt ist das gute Lebensniveau hier. Vor zwanzig Jahren, als ich erstmals hier war, war der Unterschied zu China noch deutlich größer. Aber er ist immer noch da. Für viele der hier lebenden Chinesen steht Deutschland für Lebensqualität. China dagegen steht für sozialen Anschluss. Das sind übrigens auch die wichtigsten Argumente, wenn man überlegt, ob man länger hier bleibt oder zurückgeht.

Claussen: Deutschland genießt aus meiner Erfahrung ein ungeheures Ansehen und Vertrauen in China. Das gilt für deutsche Markenprodukte ebenso wie für den deutschen Fußball und die deutsche Politik. Auch Frau Merkel ist in China ungemein beliebt.

Herr Claussen, Sie fordern mehr „China-Kompetenz“ hierzulande. Was verstehen Sie darunter?

Claussen: Mir ist aufgefallen, dass wir relativ wenig über China wissen. Das betrifft die Sprache ebenso wie den Schulstoff. In Deutschland lernen gerade mal 5500 Schüler chinesisch – absolut gesehen ist das praktisch nichts. In Niedersachsen waren es, Stand 2018, gerade mal 220 Schüler an vier Gymnasien. Damit liegt unser Bundesland statistisch im unteren Drittel. Wenn ich mir die großen Arbeitgeber im Braunschweiger Land ansehe, die vielfältige Beziehungen mit China haben, finde ich diese Zahlen ziemlich unbefriedigend. Auch international gesehen, etwa gegenüber Frankreich, liegen wir deutlich zurück.

Sie sehen vor allem die Schulen in der Pflicht?

Claussen: Ich habe mir die Curricula angeschaut und festgestellt: In den wichtigen Fächern Politik und Wirtschaft findet China schlicht nicht statt. In Erdkunde kommt es vor, wenn es um Migration und wirtschaftlichen Wandel geht. Und in Geschichte: China als Spielball der imperialistischen Mächte und das kommunistische China unter Mao. Das heutige China, die aktuellen Entwicklungen jedoch tauchen nicht auf. Über Chinesischunterricht habe ich mit mehreren Schulleitern aus der Region gesprochen. Die sagen: Wir haben Schwierigkeiten, das Fach einzuführen, weil es von Eltern und Schülern nicht gefordert wird. Ich glaube aber, manchen Eltern fehlt selbst das rechte Verständnis für die Bedeutung des Themas. Optimistisch stimmt mich, dass es bald ein Chinesisch-Curriculum für niedersächsische Schulen geben wird und dass in nächster Zeit erstmalig mehr als ein Dutzend Sinologen ihr Lehramtsstudium in Göttingen abschließen werden. Entscheidend ist, dass diese Absolventen an niedersächsische Schulen kommen und nicht in andere Bundesländer abwandern.

Sie fordern, dass wir uns stärker bemühen, China zu verstehen. Was heißt das mit Blick auf Entwicklungen, die wir in Deutschland zurecht kritisch sehen – von der digitalen Überwachung bis zur Minderheitenpolitik?

Claussen: Das Thema ist komplex. Eltern müssen sich die Frage stellen: Sind wir bereit, uns auf ein Land, eine Kultur einzulassen, die weit entfernt ist von uns? Und China ist in vielfacher Hinsicht entfernt. Aber aus meiner Sicht müssen wir uns gerade mit den Ländern auseinandersetzen, die uns nicht vertraut sind. Aufgrund der Größe und der Bevölkerungsdichte kommen wir an China nicht vorbei.

Heißt „Verständnis“ in Ihrem Sinne auch, sich Kritik zu verkneifen?

Claussen: Verständnis bedeutet ja nicht, alles gutzuheißen. Ein Beispiel: Aus unserem europäischen Blickwinkel können wir die öffentliche Überwachung in China nicht nachvollziehen. Aber wir können uns die Mühe machen, uns mit den Gründen auseinanderzusetzen, die für die Chinesen entscheidend waren. Mehr China-Kompetenz gibt uns die Chance, nicht länger auf alten Stereotypen herumzureiten. Es macht auch einen Unterschied im Gespräch mit Chinesen, ob ich Chinesisch verstehe, oder ob wir beide auf Englisch angewiesen sind – und so vielleicht Missverständnisse entstehen. Ohne die Sprache ist uns ohnehin alles verschlossen.

Herr Liu, wie weit sind wir bei der Annäherung von Deutschen und Chinesen schon vorangekommen.

Liu: Vor uns liegt noch mehr als die Hälfte des Weges. Zwar gibt es schon sehr viel Austausch – wirtschaftlich und kulturell. Aber dass meine Kinder in der Schule nicht mehr über China erfahren, finde ich schon schade. Es macht eben einen Unterschied, ob ich als Vater zu Hause von Peking erzähle oder der Lehrer allen Schülern im Klassenzimmer. Bis zur heutigen Nähe zwischen Deutschen und Franzosen, die wohlgemerkt Nachbarn sind, hat es Jahrhunderte gedauert – mit Zeiten der Annäherung, aber auch mit Kriegen. Im Vergleich zur heutigen deutsch-französischen Freundschaft, wo der Austausch auf sehr vielen Ebenen stark ist, sind die Beziehungen zu China noch sehr von Geschäftsinteressen geprägt. Ich würde mich aber sehr freuen, wenn auch der Austausch zwischen Deutschen und Chinesen zukünftig tiefer und breiter wird.