Braunschweig. Ermittler aus unserer Region tauschen sich regelmäßig mit Kollegen aus EU-Ländern aus. Im Visier: kriminelle Autoschieber, die europaweit agieren.

Organisierte Kriminalität macht vor nationalen Grenzen keinen Halt. In einer Freihandelszone wechseln nicht nur Waren kinderleicht die Seiten, auch Verbrecher reisen quer durch Länder, die einst noch durch Schlagbäume getrennt wurden. Die Polizeibehörde Europol wählt drastische Worte, wenn es aktuell um die Auswüchse von Bandenkriminalität in Europa geht. Jari Liukku leitet bei der Behörde den Bereich der Organisierten Kriminalität. Er sagte unserer Zeitung erst vor wenigen Wochen: „Die organisierte Kriminalität ist das größte Risiko für die innere Sicherheit Europas – größer als der Terrorismus.“ Und ein schwedischer Fahnder ergänzt: „Wir haben Krieg, die Lage ist dramatisch.“

Europol schätzt, dass die Anzahl der Banden in den letzten vier Jahren um ein Drittel auf bis zu 7500 gestiegen ist. Glaubt man den Erkenntnissen der europäischen Ermittler zählen die Banden mittlerweile etwa 18.000 Mitglieder. Nicht nur ihre Größe nimmt zu, auch die Brutalität, ihre Interessen auf dem Feld des Drogen- und Waffenhandels gegenüber konkurrierenden Gruppen durchzusetzen, steigt laut Europol. Allein in Schweden starben 2018 fast 40 Menschen bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banden.

Die EU ist gefordert. Sie muss, will sie ihre Bürger schützen, diesen Entwicklungen mit rechtsstaatlichen Mitteln entgegenwirken. Hier sind zu aller erst die Nationalstaaten gefragt und die dafür zuständigen Organe von Polizei und Justiz. Schon heute arbeiten Ermittler international eng zusammen, um den oftmals europäisch vernetzten Banden das Handwerk zu legen. Dennoch bleibt die nationale Rechtsprechung maßgeblich. Wollen deutsche Ermittler die Täter für Verbrechen in Deutschland anklagen, brauchen sie dafür im Vorfeld staatsanwaltschaftliche und richterliche Beschlüsse.

Justiz und Polizei müssen abgestimmt vorgehen

Michael Blase ist Leiter der Zentralen Kriminalitätsinspektion (ZKI) der Polizeidirektion Braunschweig (PD). Blase leitet ein Spezial-Kommissariat, dessen Schwerpunkt auf der Bekämpfung Organisierter Kriminalität und Bandenkriminalität liegt. Er sagt: „Wir können als Braunschweiger Ermittler nicht auf Verdacht im Ausland ermitteln. Es gibt Absprachen zwischen den europäischen Ländern. Geregelt ist das über internationale Abkommen wie das Schengener Abkommen, die einzuhalten sind. Koordiniert wird das ganze über polizeiliche Einrichtungen.“ Blase nennt hier neben LKA und BKA auch Behörden wie Europol und Interpol. „Dieser Zusammenarbeit hat sich Deutschland als Mitglied der EU verpflichtet.“

Bestehe der Verdacht, Tätergruppen arbeiteten zusammen und agierten über nationale Grenzen hinweg, müsste es zunächst einen informellen Austausch zwischen den beteiligten Ländern geben. Im Fall von Banden, die sich auf Autodiebstähle spezialisiert haben, könne es also vorkommen, dass Ermittler aus Deutschland, Polen und Schweden zusammenarbeiten, weil enge Beziehungen zwischen Tätern und Tätergruppen bestünden. Davor müsse laut Blase Rechtssicherheit geschaffen werden. Hierfür seien Staatsanwaltschaften originär zuständig. Bestimmend für das Verfahren sei die justizielle Rechtshilfe. „So ist es kein Zufall, dass auf demselben Gelände im niederländischen Den Haag neben Europol auch die EU-Justizbehörde Eurojust ihren Sitz hat.“

Die Behörde koordiniere auf der staatsanwaltlichen Ebene die Absprache und gebe am Ende grünes Licht für die Entsendung von gemeinsamen, europäischen Ermittlerteams, den sogenannten Joint Investigation Teams, kurz JIT.

„Das Vorgehen erscheint kompliziert und ist auch langwierig. Es ist aber notwendig, um zu verhindern, dass Täter später sich ihrer Anklage entziehen können, weil im Vorfeld Verfahrensfehler gemacht wurden.“

Organisierte Kriminalität setzt Milliarden um. Der Markt funktioniere nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, sagt Blase. „Unsere Region ist eine, die vom Automarkt lebt. Hier sind viele Neuwagen auf den Straßen. Es ist kein Zufall, dass sich die Kriminellen gezielt diese Region ausgesucht haben, um Autos zu stehlen und diese anschließend über die Grenze zu bringen. Dort werden sie im Anschluss verkauft oder ausgeschlachtet. Nicht selten wird von Seiten der Täter schon einkalkuliert, dass innerhalb der nächsten drei Monate an dem Ort, an dem schon ein Auto gestohlen wurde, das nächste Stehlobjekt auf der Straße steht.“

In anderen EU-Ländern unterscheiden sich die Befugnisse der Polizei

Blase sagt auch, dass sich Befugnisse und Möglichkeiten der deutschen Polizei im Vergleich zu anderen europäischen Polizeien zum Teil erheblich voneinander unterscheiden würden. Auch die Qualität der Rechtseingriffe und deren Anordnungsbefugnisse werde unterschiedlich interpretiert. Blase nennt die Beispiele einer Telekommunikationsüberwachung und einer Wohnungsdurchsuchung. In Deutschland dürften die Hürden für eine Telekommunikationsüberwachung höher liegen als in Polen, bei der Wohnungsdurchsuchung sei das umgekehrt, sagt Blase. „Hier kann bei Gefahr im Verzug die deutsche Polizei die Anordnung im Wege der Eilkompetenz treffen. In Polen gelten andere Voraussetzungen.“

Das Handout zeigt Getriebe von gestohlenen Autos. Karlsruher Ermittlern ist mit Hilfe von Europol ein Schlag gegen eine international agierende Autoschieberbande gelungen.
Das Handout zeigt Getriebe von gestohlenen Autos. Karlsruher Ermittlern ist mit Hilfe von Europol ein Schlag gegen eine international agierende Autoschieberbande gelungen. © picture alliance/dpa | Polizei Karlsruhe

Michael Bosse leitet die Abteilung Bandenkriminalität an der PD Braunschweig. Er ergänzt Blases Ausführungen: „Ein JIT wird immer nur für eine einzelne gemeinsame europäische Operation zusammengestellt, denn für jedes geführte Verfahren im Ausland müssen Staatsanwaltschaften Rechtshilfegesuche einholen.“

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig zählte im vergangenen Jahr rund 330 Rechtshilfegesuche, die bei der Behörde eingingen oder von der Behörde gestellt wurden. „Die Zahl liegt seit Jahren auf diesem konstanten Niveau“, teilt die Erste Staatsanwältin und Pressesprecherin, Julia Meyer, unserer Zeitung mit. Meyer erklärt zum Hintergrund: „Internationale Rechtshilfe wird durchgeführt, weil Ermittlungshandlungen in Ermittlungsverfahren immer nur im eigenen Land durchgeführt werden dürfen. Sobald man möchte, dass auf fremdem Staatsterrain ermittelt wird, müssen die Justizbehörden des jeweiligen Staates ersucht werden, die Ermittlungen wie beantragt durchzuführen beziehungsweise durch die dortige Polizei durchführen zu lassen. Die Ergebnisse werden dann an den ersuchenden Staat übermittelt, so dass diese dann verwertet werden können.“

Natürlich sprechen sich die Braunschweiger Ermittler vor großangelegten Einsätzen mit anderen beteiligten Dienststellen ab. Der sogenannte „kleine Dienstweg“ funktioniert offensichtlich auch heute noch. Bosse sagt: „Die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen können in meine polizeilichen Ermittlungen einfließen. Sie besitzen aber keine Relevanz hinsichtlich nachgeordneter juristischer Verfahren. Denn für die Anklage brauche ich den beantragten Rechtshilfeweg.“

Blase weist daraufhin, dass es auch eine Form der „polizeilichen Rechtshilfe“ gebe. Deutsche Beamte besäßen gewisse „Notrechte“, von denen sie in besonderen Situationen (Gefahr im Verzug) auch Gebrauch machen können. „Es ist also möglich, im Zuge von Verbrechensbekämpfung auch nationale Grenzen zu überschreiten. Dabei komme es auf die Verhältnismäßigkeit an. „Ich werde das als deutscher Polizist im Ausland nicht durchsetzen können, nur weil ich einen flüchtigen Ladendieb bis in die Niederlande verfolgen will.“ Es gehe hier um die Bekämpfung schwerster Formen von Kriminalität, mitunter Waffenschmuggel oder auch um Terrorismus.

Ermittler: Früher an der Grenze die Nase platt gedrückt

Die föderalen Strukturen Europas erschwerten und verlangsamten Ermittlungen manchmal, sagen die Braunschweiger Ermittler. ZKI-Chef Blase sagt aber auch: „Im Vergleich zur Arbeit von vor 30 Jahren ist die Zusammenarbeit schon spürbar besser geworden.“ Früher habe man sich als deutscher Polizist an der Grenze „die Nase platt gedrückt“, weil keine entsprechenden Befugnisse bestanden hätten und auch die Abstimmung mit den Kollegen im Ausland fehlte. „Es gibt bei der Verbrechensbekämpfung auch bilaterale Abkommen zwischen Niedersachsen und Polen. Auf die berufe ich mich als Leiter einer Spezial-Dienststelle, um Ermittlungen voranzutreiben. Diese Abkommen sind nicht nur in meinem Interesse, sondern auch im Interesse der Kollegen in den entsprechenden Dienststellen in Polen. Hier gibt es einen stetigen Austausch, denn der persönliche Kontakt ist für die Vertrauensbildung enorm wichtig“, sagt Blase.

Blase und Bosse hüten sich davor, konkret die Namen der polnischen Kommissariate zu nennen, mit denen sie seit Jahren im direkten Austausch über Autoschieber-Banden stehen. Sie wollen die Tätergruppen nicht misstrauisch machen. Blase spricht von einem ständigen „Katz-und-Maus-Spiel“. Er sagt: „Es geht immer darum, mit den Tätern auf Augenhöhe agieren zu können. Wir sind als Polizei rechtsstaatlichen Kriterien verpflichtet. Diese Verfahren sind oft langwieriger und müssen oft von langer Hand geplant werden. Deswegen ist unsere Verschwiegenheit auch Selbstschutz, um im Kampf gegen kriminelle Banden nicht immer öfter den Kürzeren ziehen zu müssen. Informationen für die Öffentlichkeit spielten am Ende auch den Banden in die Karten.

Erfolge gibt es dennoch: „Die Zahl der Diebstähle von VW-Bullis der Typen T4, T5 und T6 ist stark rückläufig. Sie tendiert mittlerweile gegen Null, weil wir auch in Zusammenarbeit mit Ermittlern aus Osteuropa einige Hintermänner überführen konnten. Das ist ein positives Beispiel, das zeigt, wie vorteilhaft es sein kann, auf dem Feld der Bandenkriminalität europäisch zusammenzuarbeiten“, sagt Bosse.