Braunschweig. . Die Politikwissenschaftlerin Anja P. Jakobi erklärt die Rolle Europas in der Welt und skizziert die unterschiedlichen Erwartungen an Brüssel.

Was wird von Angela Merkel bleiben, wenn sie 2021 ihre Kanzlerschaft nach 16 Jahren niederlegen wird? Vielleicht ist es auch dieses Zitat aus dem Mai 2017: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Gemünzt war der Satz auf US-Präsident Donald Trump, der mit seiner aggressiven Politik des Protektionismus auf Feldern der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik europäische Bündnispartner wiederholt auf offener Bühne vor den Kopf gestoßen hatte. Wie sollte Europa unter den Umständen in dieser weltpolitischen Gemengelage agieren? Dirk Breyvogel sprach mit Professorin Anja P. Jakobi, Inhaberin des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig, auch über diese Frage.

Professorin Anja P. Jakobi ist Inhaberin des Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig. Sie nimmt auch auf dem Podium des Leserforums unserer Zeitung am 8. Mai teil.
Professorin Anja P. Jakobi ist Inhaberin des Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig. Sie nimmt auch auf dem Podium des Leserforums unserer Zeitung am 8. Mai teil. © Philipp Ziebart/BestPixels.de | Philipp Ziebart

Die USA und China ringen um die hegemoniale Stellung in der Welt. Europa wirkt dagegen zerstritten, spricht bei vielen Themen nicht mit einer Stimme. Wie sollte sich die EU aus Ihrer Sicht verhalten?

Es gibt da keinen Königsweg, denn die Frage ist: welche Ziele will man als Staatenblock, wie die EU einer ist, erreichen? Geht es darum, wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen oder darum, seine militärische Macht auszuweiten? Das sind zwei unterschiedliche Ziele, die eine andere Herangehensweise implizieren. Ich bin aber weit davon entfernt zu glauben, als Lehrende der Politikwissenschaft von meinem Schreibtisch aus eine einfache Handlungsempfehlung für diese komplexe Situation zu geben.

Dann beschreiben Sie doch einfach mal die Ausgangslage?

Allianzen und Bündnisse haben sich weltweit verschoben. Die transatlantische Achse zwischen Europa und den USA ist kein Naturgesetz mehr. Die Zusammenarbeit wird zunehmend durch die Politik der US-Administration unter Präsident Trump auf eine harte Probe gestellt. Die EU sieht sich zunehmend mit der Frage konfrontiert: Kann man sich noch auf die USA verlassen? Immer öfter muss das aktuell mit Nein beantwortet werden.

Wenn das so ist, muss sich dann die EU nicht neue Partner suchen?

Das tut die EU. Der Versuch, mit China Handelsvereinbarungen zu schließen, macht das deutlich. China ist für Europa als Wirtschaftsmacht attraktiv, bleibt aber dennoch angreifbar, weil hier bei den Fragen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit noch große Defizite bestehen. Und man sollte nicht naiv sein: Auch die chinesische Außenpolitik ist eine, die auf Expansion setzt. Im südchinesischen Meer beansprucht China Gebiete für sich, die China nach internationalem Recht nicht gehören. Hier agieren die USA für viele Anrainer noch als Schutzmacht.

Wird der Handelsstreit zwischen USA und China noch gelöst oder wird er eskalieren?

In den Überschriften, die wir lesen, dominieren die Konflikte. Dabei nähern sich Amerikaner und Chinesen auch bilateral an. Sie tätigen gemeinsame Absprachen, zuletzt beispielsweise was die gegenseitige Beteiligung an Unternehmen angeht. Das sind Fortschritte, die es gibt, die aber weniger schlagzeilenträchtig sind.

Die EU wirkt in diesem Machtringen als Getriebene. Ist eine vermittelnde Rolle zielführend, wenn man Einfluss gewinnen will?

Es ist keine schlechte Position, als Vermittler aufzutreten. Diese Herangehensweise war zumindest in den letzten Jahrzehnten eine, die Frieden stiftete. Das ist viel wert, wenn man sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa anschaut. Internationale Diplomatie bewegt sich immer in einem bestimmten politischen Umfeld und Zeitgeist. Deshalb sollte man sich nicht treiben lassen und sich seine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit nicht nehmen lassen. Wer hätte denn vor einigen Jahren gedacht, das wir uns ernsthaft die Frage in Deutschland stellen, wer vertrauenswürdiger ist: Die USA oder China? Erschwerend kommt hinzu, dass diese Frage auch in Europa nicht einheitlich beantwortet wird.

Das wissen auch die USA und China. Während der Ungar Viktor Orbán vermutlich Trump politisch näher steht als Merkel, verhandelt zum Ärger Brüssels Italien mit China über den Verkauf ihrer Seehäfen. Diese könnten ein Baustein der Chinesen beim Projekt „Neue Seidenstraße“ werden. Macht sich Europa durch seine Vielstimmigkeit nicht auch angreifbarer?

Wenn man das Projekt Europa als Demokratie denkt, dann kommt man nicht umher, diese Entwicklungen zu akzeptieren. Die nationalen Regierungen begründen ihr Handeln mit dem Auftrag, den das Volk ihnen mit ihrer Wahl gegeben haben. Wir müssen hier aber feststellen, dass wir international in einem Zeitalter angekommen sind, in dem Liberalisierungsbestrebungen an ihre Grenzen geraten. Deutschland ist da vielleicht über lange Zeit noch ein Sonderfall gewesen: Wir wissen, dass wir wirtschaftlich vom Export profitieren, und unsere Geschichte schützt uns noch mehr als andere davor, ins nationalistische Denken zu verfallen. Aber auch das verändert sich. Es gibt eine Stimmung gegen Globalisierung, die nicht zu leugnen ist.

Ist sich Deutschland seiner hervorgehobenen Rolle bewusst?

Oft habe ich das Gefühl, dass das nicht so ist. Unsere zentrale Lage, unsere Größe und unser Wohlstand sind mit anderen Ländern der EU nicht zu vergleichen. Die Banken- und Finanzkrise ist an Deutschland noch verhältnismäßig glimpflich vorbeigegangen. Ich war in dieser Zeit in Großbritannien. Da wurden Sozialleistungen des Staates massiv zurückgefahren. Ich spreche von einer Wirtschaftsmacht; von den Erfahrungen, die die Menschen mit der EU in Südeuropa gemacht haben, will ich erst gar nicht reden. Was ich damit aufzeigen will: wir können als Deutsche nicht davon ausgehen, dass die anderen Länder die Welt genauso sehen wie wir.

Die Vereinigten Staaten von Europa: eine Idee, die einst Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat propagierte. Ist das, ohne den Verlust nationaler Kompetenzen, überhaupt darstellbar?

Nur, wenn die Idee von allen geteilt wird. Wenn es um die Bewältigung außenpolitischer Konflikte geht, ist es sicherlich zielführend, mit einer Stimme zu sprechen. Ich zweifle aber, dass insbesondere die Staaten des früheren Ostblocks, die erst nach 1990 ihre Unabhängigkeit erlangt haben, bereit sind, nationale Kompetenzen auf dem Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zugunsten Brüssels abzutreten.

Halten Sie es für notwendig, dass Europa das Einstimmigkeitsprinzip aufgibt, um Prozesse zu beschleunigen?

Es ist naiv zu denken, dass die EU dann effektiver und zielorientierter arbeiten wird…

Können Sie das mal erklären?

Es steht ja hier immer die Frage im Raum, was kostet die Umsetzung von politischen Projekten an Geld und was an Zeit. Beim Einstimmigkeitsprinzip benötigen sie extrem viele Ressourcen und Kosten, bis es zur Abstimmung kommt, weil sie bis zu diesem Punkt alle überzeugen müssen. Aber diese Entscheidung wird dann bei der Abstimmung auch in der Regel gemeinsam getragen. Die Kosten für die anschließende Umsetzung des Gesetzes auf nationalstaatlicher Ebene, der sogenannten Implementierung, sind daher wesentlich geringer.

Und was heißt das im Umkehrschluss?

Fällt das Prinzip weg, sind nur die zufrieden, die aus der Abstimmung als Sieger hervorgegangen sind. Die Verlierer verlassen frustriert den EU-Gipfel und müssen ein schlechtes Ergebnis ihrem Volk verkaufen. Ich kann ja in Brüssel viel entscheiden, aber umsetzen muss ich es zu Hause. Was wäre die Folge: Ich würde als verantwortlicher Politiker auch versuchen, eine Entscheidung, die ich inhaltlich nicht unterstütze, erst zu hinterfragen und dann so lange wie möglich zu verzögern. Für mich ist daher die Forderung nach der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips zu kurz gedacht. Sie spart keine Zeit und auch kein Geld. Wenn man Länder nicht im Vorfeld überzeugt, wird man es hinterher auch nicht schaffen.

Gibt es Prinzipien, die jedes Land als Mitglied der EU erfüllen muss? Wo gibt es keinen Spielraum?

Die EU hat sich ja selbst Regeln gegeben, die werden oft nur unterschiedlich ausgelegt. Bei der Frage beispielsweise der Pressefreiheit oder der Bekämpfung von Korruption, ist bei den Aufnahmeverfahren erwartet worden, dass sich Länder mit dem Eintritt in die EU weiterentwickeln. Das ist so, weil man davon ausgeht, dass der eigene, positive Einfluss auf das Land wächst. Aktuell ist zu beobachten, dass das Rad in manchen Ländern zurückgedreht wird. Manche Entwicklungen waren schlicht nicht vorhersehbar, andere haben aber negativ überrascht.

Ist die EU für Sie noch eine Werteunion? Gegründet wurde sie als Zusammenschluss, um gemeinsame wirtschaftliche Interessen zu vertreten...

Die EU hat sich entwickelt. Viele Entscheidungen führten dazu, dass sie sich zu einer Werteunion formieren konnte. Dazu gehörte auch die Entscheidung, mit dem Euro eine gemeinsame Währung einzuführen. Es gab aus meiner Sicht keinen wirklichen Geburtsfehler der EU. Fest steht: die Erweiterung führt heute zu vielen Konflikten. Aber politische Entscheidungen werden getroffen, weil sie eine Stimmung widerspiegeln. Und in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre gab es weltweit einen großen Optimismus, dass das Modell der liberalen Demokratie sich durchsetzen wird, weil es alternativlos erschien. Mit Blick auf den Entscheidungsstau in der EU wäre es vermutlich heute einfacher, wenn die EU mit Blick auf ihre Mitglieder nicht so schnell so divers geworden wäre.

Das klingt pessimistisch...

Das ist nur eine Seite der Medaille. Mit den neuen Ländern ist die EU größer und mächtiger geworden. Sie hat sich zu einem enormen Binnenmarkt und einer großen Wirtschaftsmacht entwickelt. Nur dadurch wird sie als zentraler, politischer Akteur in der Welt wahrgenommen. Auch dafür steht Europa.

Viele sehen in der Europawahl die wichtigste Wahl des Jahres. Ist das nicht auch Populismus?

Nein, denn wir merken doch, wie zerrissen Europa ist. Es muss klar sein, dass alle Annehmlichkeiten, die die EU für jeden Einzelnen mit sich bringt, auch wieder verschwinden können, wenn sich diejenigen durchsetzen, die für nationalistische Alleingänge plädieren und dafür mobilisieren. Wenn in dieser politischen Gemengelage die Wahlbeteiligung bei der Europawahl gering wäre, wäre das kein gutes Signal für den Zustand der EU.

Welche Rolle spielt der Brexit?

Der Brexit ist doch das beste Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Die politischen Kräfte in Großbritannien, die die EU verlassen wollen, argumentierten stets, sich mit dem Austritt den ständigen Bevormundungen Brüssels entziehen zu können. Nun ist es gar nicht Brüssel, wo man sich quer stellt, sondern ihnen selbst fehlt der Entscheidungswille. Sie haben offensichtlich begriffen, dass sie nicht rauskommen, ohne einen immensen wirtschaftlichen und politischen Schaden für sich und nachfolgende Generationen zu hinterlassen. Aber den Brexit rückgängig zu machen, wäre ein Verrat an der Demokratie.

Glauben Sie, dass den Bürgern durch das Theater in London stärker als je zuvor vor Augen geführt wird, welchen Wert Europa hat?

Das pauschal zu sagen, ist schwierig. Generell glaube ich, dass die Komplexität der EU nicht gerade das Verständnis für Europa fördert. Aber es gibt gute Gründe, warum die EU so komplex ist. Es gibt viele Einzelinteressen der Länder, die, wenn eine Zusammenarbeit funktionieren soll, auch berücksichtigt werden müssen. Ich hoffe aber, dass das Thema stärker schulischer Lernstoff wird. Wenn man sich die vergleichenden europäischen Bildungstests wie Pisa anschaut, wird immer nur abgefragt, wie gut man lesen, schreiben und rechnen kann. Politische Bildung spielt eine zu kleine Rolle. So kann das Verständnis für Europa – und politische Zusammenhänge generell – nicht wachsen.