Braunschweig. David McAllister ist der niedersächsische Kandidat für die Europawahl. Seiner Meinung nach geht es diesmal um eine Richtungsentscheidung in Europa.

David McAllister (CDU) trommelt in diesen Tagen: für seine Partei und die Europawahl. Es handele sich um eine Richtungsentscheidung, sagt der Spitzenkandidat der niedersächsischen CDU. Wir dürften Europa nicht den Populisten überlassen. Am Freitagabend redete der Ex-Ministerpräsident in Königslutter beim zentralen Wahlauftakt der CDU im Braunschweiger Land. Andre Dolle sprach vorab mit ihm am Telefon.

In vier Wochen ist Europawahl, aber die Hälfte der Deutschen kennt keinen der Spitzenkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien. Was läuft da falsch?

Der Wert überrascht nicht. Das war auch bei früheren Europawahlen so. Aber wir haben noch vier Wochen, die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt ja erst. Auch im Braunschweiger Land sind die Kandidaten der größeren Parteien plakatiert: von Manfred Weber für die Union, Frau Barley für die SPD oder Frau Beer für die FDP.

Es wird immer wieder betont, wie wichtig diese Europawahl ist. Warum schicken die Parteien dennoch keine richtigen Zugpferde als Spitzenkandidaten ins Rennen?

Dem würde ich widersprechen. Die deutschen Parteien haben attraktive Kandidaten aufgestellt. Manfred Weber ist ja nicht nur der deutsche Spitzenkandidat für CDU und CSU, sondern der europaweite Kandidat der EVP für das Amt des Kommissionspräsidenten. Die SPD präsentiert die amtierende Justizministerin, die FDP ihre bisherige Generalsekretärin. Das sind interessante Persönlichkeiten. Bei der CDU haben wir keine Bundeslisten für die Europawahl, sondern Landeslisten. Dadurch haben wir eine höhere regionale Identifikation. Mein Bekanntheitsgrad als Spitzenkandidat für die CDU in Niedersachsen dürfte in Ordnung sein.

Nur jeder vierte Deutsche aber kennt Manfred Weber. Hatten Sie als Ex-Ministerpräsident Niedersachsens und überzeugter Europäer keine Lust, Spitzenkandidat zu werden?

Wir haben uns auf einem Parteitag in Helsinki auf Manfred Weber als gemeinsamen europäischen Spitzenkandidaten für die EVP geeinigt. Er setzte sich in einer demokratischen Abstimmung gegen den ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb durch. Manfred Weber ist ein überzeugter Europäer und als Vorsitzender unserer EVP-Fraktion im Europäischen Parlament kennt er alle Themen und die 28 nationalen Besonderheiten wie kaum ein anderer. Er hat meine volle Unterstützung.

Barley hat einen Bekanntheitsgrad von 39 Prozent, den AfD-Kandidat Jörg Meuthen kennen 35 Prozent. Da sticht die Union mit Weber nicht gerade hervor.

Der Bekanntheitsgrad von Manfred Weber wird sich in den kommenden Wochen stark erhöhen. Einem europapolitisch interessiertem Publikum ist er natürlich bestens bekannt. Zur Realität gehört aber auch, dass viele Bürger die Europapolitik nicht so intensiv verfolgen. Das ist eine Herausforderung für alle Parteien.

Von einer „Schicksalswahl“ sprechen einige, vom „Kampf um die Seele Europas“. Ist das nicht etwas übertrieben?

Diese Wahl bezeichne ich als Richtungsentscheidung für Europa. Die europäische Zusammenarbeit hat uns in den vergangenen Jahrzehnten ein großes Maß an Frieden, Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und auch sozialer Sicherheit garantiert. Dieses Europa wird enorm herausgefordert von Radikalen, von Populisten, von Demagogen und Nationalisten. Sie wollen die EU schwächen, sie wollen sie zerstören. Wozu diese Leute in der Lage sind, das hat man beim Brexit gesehen. Er ist der schwerste Rückschlag in der bisherigen Geschichte der europäischen Integration. Das beste Rezept gegen die Gegner eines vereinten Europas ist eine bessere Wahlbeteiligung. Möglichst viele Bürger sollten sich am 26. Mai die zehn Minuten Zeit nehmen und zur Wahl gehen.

In Umfragen liegen EU-kritische Fraktionen aus dem Europaparlament bei zusammen etwa 25 Prozent. Wie bedrohlich wäre die neue rechte „Superfraktion“, die der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini bündeln will?

Die Rechtsradikalen und Rechtspopulisten erlebe ich seit 2014 im Europaparlament. Sie geben auf komplexe Fragen viel zu einfache Antworten. Sie spalten mit aggressiver Rhetorik, machen europäische Zusammenarbeit verächtlich. Bei der Wirtschafts- und Währungspolitik haben die Rechtspopulisten im Norden und im Süden Europas sehr unterschiedliche Auffassungen. Auch in außenpolitischen Fragen sind sie gespalten. Ob sie eine Fraktion bilden werden, bleibt abzuwarten. Für sie steht Agitation im Vordergrund. Aber in der Tat: Je stärker die Rechtsradikalen werden, umso größer ist die Gefahr, dass sie Sand ins Getriebe streuen.

Der Brexit liegt wie ein Schatten über der Wahl. Nach drei Jahren haben die Brexit-Hardliner noch immer nicht geliefert. Sie haben schottische Wurzeln. Bekommen Sie einen Schreikrampf, wenn Sie die Debatten im britischen Unterhaus verfolgen?

Das Chaos im Jahr 2019 in Westminster ist die Folge einer nie dagewesenen diffamierenden Kampagne der Anti-Europäer, die den Menschen im Vereinigten Königreich einen Haufen Mist erzählt haben. Der Brexit kennt nur Verlierer, wir müssen aber das beste aus der Situation machen. Es ist richtig, dass der Austritt flexibel bis zum 31. Oktober verlängert wurde, um einen ungeordneten Brexit zu verhindern. Das hätte gerade für die Industrieregion Braunschweig-Wolfsburg schwerwiegende Folgen.

Es sieht danach aus, dass die Briten sogar noch einmal an der Europawahl teilnehmen und scharenweise EU-Kritiker von der Insel ins Straßburger Parlament bringen. Wie ist das noch zu vermitteln?

Der Donnerstag ist der klassische Wahltag im Vereinigten Königreich. Wenn die Briten also noch bis zum 23. Mai EU-Mitglied sind – und danach sieht es aus – dann sind sie verpflichtet, an der Wahl teilzunehmen. Das hat zur Folge, dass zunächst noch einmal 73 britische Abgeordnete gewählt werden. Sie könnten dann zu Beginn der Wahlperiode am 2. Juli genau wie alle anderen Abgeordneten ihren Einfluss geltend machen. Die Kritik daran kann ich nachvollziehen. Die Alternative wäre aber gewesen, die Briten am 12. April in einem chaotischen Verfahren aus der EU austreten zu lassen. Das wurde zurecht abgewendet.

Für die Hälfte der Deutschen ist die Umwelt- und Klimapolitik das wichtigste Thema bei der Europawahl. Vom Ziel, sich bis 2020 auf ein gemeinsames klimapolitisches Vorgehen zu einigen, ist die EU aber noch weit entfernt, oder?

Die Klimaschutzpolitik ist eines der ganz zentralen Themen. Bei den vielen jungen Leuten ist es sogar das beherrschende Thema. Die EU ist schon jetzt weltweit Vorreiter beim Klimaschutz. Ohne die EU wäre das Pariser Klimaschutzabkommen niemals vereinbart worden. Das gilt auch für das Nachfolge-Abkommen von Kattowitz. Die Klimaziele der EU sind enorm ehrgeizig. Wir brauchen dafür jetzt die rechtlichen Rahmenbedingungen. Dass das nicht einfach ist, zeigt die Debatte in Deutschland. Aber auch China und die USA müssen ihren Verpflichtungen gerecht werden. Das amerikanische Ausscheiden aus dem Pariser Abkommen halte ich neben vielen Fehlentscheidungen von Präsident Trump für seine schwerwiegendste.

Ebenso wichtig ist für viele Deutsche bei dieser Wahl die Flüchtlingspolitik. Die große Asylreform steht noch aus, es gibt keine Einigung auf eine Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten. Wie kann beides gelingen?

Wir sind uns einig, dass wir die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen müssen. Wir brauchen eine ganz neue, eng abgestimmte Politik mit Blick auf Afrika. Wir brauchen wesentlich mehr Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen aber auch einen besseren Schutz unserer europäischen Außengrenzen. Die europäische Grenzagentur Frontex wollen wir so zügig wie möglich zu einer operativen Grenzpolizei ausbauen und auf mindestens 10.000 zusätzliche Grenzschützer aufstocken. Etwa 20 der 28 EU-Mitgliedsstaaten sind bereit, die Flüchtlinge fair untereinander aufzuteilen. Polen, Ungarn und weitere werden stattdessen an anderer Stelle mehr leisten müssen. Wer sich solidarisch verhält, sollte von der Strukturförderung mehr profitieren als andere Länder.

Das Einstimmigkeitsprinzip bereitete nicht nur bei der Flüchtlingspolitik Probleme. Es sorgte auch dafür, dass eine Sondersteuer für Digitalriesen wie Google und Facebook nicht zustande kam. Wann wird es mehr Mehrheitsentscheidungen geben?

Das Problem ist: Zusätzliche Mehrheitsentscheidungen bedürfen erstmal einer einstimmigen Grundsatzentscheidung. Es gibt aber zum Beispiel in der Steuerpolitik einige wenige Mitgliedsstaaten, die sich gegen Mehrheitsentscheidungen wenden. Google oder Apple zahlen auch deshalb in Europa keine angemessenen Steuern. Es bedarf qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auch in der Außenpolitik, um flexibler und effizienter zu werden. Stand jetzt kann ein einzelnes Land eine Entscheidungsfindung der EU blockieren. So hat es die EU nicht geschafft, sich einheitlich zu den unvorstellbaren Vorgängen in Venezuela zu positionieren. Sie muss weltpolitikfähig werden.

China stützt die heimische Wirtschaft mit milliardenschweren Subventionen und bündelt Kräfte, um in den nächsten Jahren neue Weltmarktführer zu schaffen. Welche Antworten hat Europa?

Eine moderne Industriepolitik muss ein Schwerpunkt der nächsten EU-Kommission sein. Wir können auf Dauer unseren Wohlstand nur halten, wenn wir Industrie-Standort bleiben. Länder wie Deutschland, die eine starke Industriepolitik betrieben haben, stehen erfolgreicher da als Länder, die verstärkt auf den Dienstleistungssektor setzen. In den 1970er Jahren haben wir uns in der Flugzeugindustrie in einem Kraftakt europäisch zusammengeschlossen und Airbus geschaffen. Solch einen Zusammenschluss brauchen wir jetzt auch bei der drohenden digitalen Übermacht aus den USA und aus China. Das gilt auch für die künstliche Intelligenz. Unsere Wettbewerber sitzen vermehrt außerhalb der EU. Deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum EU-Wettbewerbskommissarin Vestager die Fusion zwischen Siemens und Alstom untersagt hat.

Diese Europawahl könnte die EU lähmen. Oder bringt sie vielleicht sogar neuen Schub?

Mein Ziel ist eine EU, die sich auf die wesentlichen Aufgaben konzentriert und diese mit aller Kraft angeht. Im 21. Jahrhundert sind alle Länder Europas kleine Länder. Nationale Alleingänge sind etwas aus dem letzten Jahrhundert. Wenn die Wähler dafür sensibilisiert werden, kann die Wahl einen Schub geben für eine stärkere und bessere Europäische Union.