Karlsruhe. Das Urteil des Bundesgerichtshof spricht einen Münchener Arzt von Schadensersatzforderungen frei. Mediziner aus der Region begrüßen das.

Sicher: Es steht niemandem zu, über das Leben zu entscheiden. Aber ist ein Dahinvegetieren wirklich Leben?

Das fragt Leserin Pia Angelika Cybulko auf unseren Facebookseiten.

Zu dem Thema recherchierten Dirk Breyvogel und unsere Agenturen

Ein dementer Mann liegt die letzten Jahre bewegungsunfähig im Bett, nur eine Magensonde zögert den Tod hinaus. Der Arzt habe ihn sinnlos leiden lassen, meint der Sohn – und strengt einen beispiellosen Schmerzensgeld-Prozess an. Aber der Bundesgerichtshof versagt ihm die Entschädigung.

Das Urteil ist eindeutig: Ärzte müssen kein Schmerzensgeld zahlen, wenn sie den Tod eines Patienten durch lebenserhaltende Maßnahmen hinauszögern und damit dessen Leiden künstlich verlängern. Das haben die obersten Zivilrichter in Deutschland entschieden. „Das Urteil über den Wert eines Lebens steht keinem Dritten zu“, sagte die Senatsvorsitzende Vera von Pentz bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Deshalb verbiete es sich grundsätzlich, ein Weiterleben als Schaden anzusehen – auch wenn es leidensbehaftet sei.

Verlor vor Gericht: Der Kläger: Heinz Sening.
Verlor vor Gericht: Der Kläger: Heinz Sening. © dpa | Uli Deck

Damit unterlag ein Mann in letzter Instanz, der als Alleinerbe seines 2011 mit 82 Jahren gestorbenen Vaters dessen Hausarzt verklagt hatte. Heinrich Sening war schwer demenzkrank und verbrachte seine letzten Lebensjahre in einem Münchner Pflegeheim – bewegungsunfähig im Bett, außerstande, sich mitzuteilen, von Schmerzen und Fieber gebeutelt. Sein Sohn Heinz, der damals schon in den USA lebte und selbst Altenpfleger ist, hält das für sinnlose Quälerei.

Karlsruhe entscheidet in letzter Instanz – keine Revision möglich

In einem vorangegangenen Urteil vom Oberlandesgericht (OLG) München hatte der klagende Sohn 40.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen bekommen. Weil der Hausarzt die künstliche Ernährung immer weiterlaufen ließ, sahen die Richter Aufklärungspflichten verletzt. Mit der BGH-Entscheidung ist das allerdings hinfällig.

Dr. Rainer Prönneke, Chefarzt am Marienstift in Braunschweig, hält das Urteil für richtig. „Es fehlte die Willenserklärung des Patienten. Daher ist es die Pflicht des Arztes, im Zweifel das Leben zu erhalten. Auf der anderen Seite müssen Ärzte immer abwägen, was medizinisch sinnvoll ist und was nicht. Hier gibt es auch einen Grenzbereich, der oft schwer ist, juristisch eindeutig zu klären.“ Mediziner würden oft Gratwanderungen unterliegen. Ein Arzt könne in zwei Fällen der Körperverletzung vor Gericht beschuldigt werden. Es gebe die Körperverletzung, weil man zu viel getan hat oder etwas unterlassen habe. Für den Internisten und Palliativmediziner Prönneke ist der Fall Heinz Sening eine Mahnung, wie wichtig eine Patientenverfügung ist. „Wenn man etwas nicht macht, kann es zu Grenzsituationen kommen. Diese könnten zur Folge haben, dass etwas medizinisch gemacht wird, was man eigentlich ablehnt.“

Die Ärztekammer Niedersachsen begrüßt das Urteil. Es spiegele die Position der Ärzteschaft in Niedersachsen wieder, erklärte Sprecher Thomas Spieker gegenüber unserer Zeitung. „Mediziner haben sich dem hippokratischen Eid verpflichtet. Die Erhaltung von menschlichem Leben kann daher nie ein Schaden sein.“ Auch Spieker verweist in dem Zusammenhang auf die Bedeutung von Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen. Diese müssten frühzeitig, in der „Blüte des Lebens“ gemacht werden. Nach Angaben von Dr. Thorsten Kleinschmidt, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Braunschweig und selbst Hausarzt, geschehe das auch immer öfter. „Das hat in den letzten Jahren extrem zugenommen. Ich stelle zudem fest, dass viele Angehörige froh sind, wenn die Ärzte das Thema proaktiv ansprechen. Viele haben da offenbar eine Scheu oder vielleicht auch Vorurteile.“

Wolfgang Putz, der Anwalt des unterlegenen Klägers, zeigte sich nach dem Urteil enttäuscht. Es setze die falschen Signale. Er glaubt, dass Ärzte sich im Zweifel immer für die Lebensverlängerung entscheiden würden. Dem widerspricht Hausarzt Kleinschmidt klar. Auch Ärzte hätten einen moralischen Kompass und schielten nicht automatisch nach dem technisch und medizinisch Machbaren. Eine Entscheidung, ob Putz im Namen seines Mandaten noch Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht oder beim Europäischen Gerichtshof einlegen wird, steht noch aus.