Hildesheim. . Hildesheims neuer Bischof Heiner Wilmer fordert im Interview Reformen in der katholischen Kirche – und will mit gutem Beispiel vorangehen.

Mit Bischof Heiner Wilmer sprach Andre Dolle.

Bischof Wilmer, Sie haben Ihr Amt in schwierigen Zeiten übernommen. Sind Sie nach einem halben Jahr schon richtig angekommen?

Ich bin schon sehr heimisch und fühle mich sehr wohl. Ich bin sehr viel im Bistum unterwegs und mag den Menschenschlag hier, die herzliche und kernige Art. Die Sachen kommen klar auf den Tisch, auch wenn es Konflikte gibt.

Das Bistum ist groß. Haben Sie das Braunschweiger Land schon richtig kennengelernt?

Als Niedersachsen den Reformationstag als Feiertag eingeführt hat, war ich gleich zu einem wichtigen Termin in Braunschweig. Landesbischof Christoph Meyns hatte mich eingeladen, im voll besetzten Dom die Predigt zu halten. Das war ein Zeichen großen Vertrauens. Ich war nun schon mehrere Male in Braunschweig und Umgebung. Die Stadt ist schön, alt und hat eine große Geschichte. Und in Wolfenbüttel war Ende August – kurz vor meiner Amtseinführung – mein letzter Pilgertag mit Jugendlichen im Bistum. Die Stimmung beim Gottesdienst in Wolfenbüttel war gigantisch.

Keine vier Wochen nach Ihrem Amtsantritt veröffentlichte die katholische Kirche in einem Bericht das bedrückende Ausmaß vom Missbrauch. Sind Sie seitdem im Krisenmodus?

Bereits kurz nach meiner Ernennung im vergangenen März hatte ich mich mit dem Missbrauch auseinandergesetzt und gemerkt, dass das hier ein großes Thema ist. Ich habe schon bei meiner Weihe gesagt, dass ich mich dem Thema mit aller Kraft stellen werde. Ich habe aber nicht damit gerechnet, dass es mich so massiv beschäftigen würde. Fast täglich setze ich mich damit auseinander. Es frisst mich aber nicht auf. Ohne Ansehen der Person und der Institution muss alles auf den Tisch. Es geht um Gerechtigkeit, es geht nicht darum, ein schönes Image aufrechtzuerhalten.

Sie selbst gelten nicht zuletzt durch Ihren Umgang mit dem Thema als Aufsteiger. Bekannt geworden ist Ihr Satz: „Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.“ Wie meinen Sie das?

Es handelt sich um nichts Neues unter der Sonne. Das Streben nach Macht ist so alt wie die Kirche selbst und noch älter. In der Kirche gibt es die uralte Lehre der Erbschuld. Wir sind sündig als Einzelne, aber auch als Institution. Das steckt in uns drin wie unsere DNA. Ich wollte damit nicht sagen, dass die Kirche nur ein Sündenpfuhl ist. Was Macht betrifft, ist die Kirche aber nicht besser als Parteien, Verbände oder Unternehmen, in denen Menschen auch nach Macht streben.

Sie gingen noch einen Schritt weiter und sprachen von der „Struktur des Bösen“.

Besonders in der Kirche haben wir die große Last der sexualisierten Gewalt und des Machtmissbrauchs. Verantwortliche haben sich an Schutzbefohlenen versündigt. Es gab Strukturen, in denen Verantwortliche weggeschaut und Täter nicht dingfest gemacht haben. Was ich besonders schlimm finde: Sie haben eine Schuld abgefedert. Wir haben es hier aber ganz klar mit Straftaten zu tun.

Sie haben das Fehlverhalten des Hildesheimer Altbischofs Janssen offengelegt und bestätigt, dass auch er übergriffig wurde. Das kam sicher nicht nur gut an, oder?

So ist es. Ich habe aber nichts bestätigt, sondern über die Anschuldigungen eines zweiten Betroffenen im vergangenen Herbst informiert, der Bischof Janssen sexualisierte Gewalt zur Last legt. Ein erster Betroffener hatte sich 2015 gemeldet. Wir lassen das alles unabhängig untersuchen.

Sie haben bereits Ende September ein Video ins Netz gestellt und dazu aufgerufen, dass sich Opfer und deren Angehörige bei Ihnen melden können. Was unternimmt das Bistum ansonsten?

Wir werden bald darüber informieren, wie nach einem ersten unabhängigen Gutachten im Jahr 2017 die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch im Bistum Hildesheim nun fortgesetzt wird. Es werden erneut externe Fachleute für uns tätig. Auch forensischer Sachverstand wird dabei sein. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass Licht ins Dunkel kommt. Deshalb arbeiten wir auch voll umfänglich mit der niedersächsischen Justizministerin Barbara Havliza und mit der Staatsanwaltschaft in Hildesheim zusammen.

Dazu passt eine Leserfrage. Gunda Reichenbach aus Wolfenbüttel möchte wissen, ob Verdachtsfälle an staatliche Ermittlungsbehörden übergeben werden.

Definitiv. Wir haben zwei von der Kirche komplett unabhängige, fachlich kompetente Ansprechpersonen, an die sich Betroffene wenden können. Diese Personen gehören dem bischöflichen Beraterstab in Fragen sexualisierter Gewalt an, der von der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer ehrenamtlich und ebenfalls komplett unabhängig geleitet wird. Dieses Gremium ist ein Garant dafür, dass die binnenkirchliche Kultur aufgebrochen wird. Wenn es Verdachtsmomente gibt, sind die Staatsanwaltschaften die erste Adresse, um die Vorwürfe aufzuklären. Bisher sitzen unabhängige Ansprechpersonen in Hildesheim und Helmstedt. Wir wollen im Laufe des Jahres drei weitere dezentrale Anlaufstellen für Betroffene schaffen.

Wolfram Buchwald aus Gifhorn fragt: Werden alle Priester, deren Schuld erwiesen ist, nur aus ihrem Amt entfernt oder auch in schweren Fällen exkommuniziert?

Das Kirchenrecht sieht auch die Entlassung aus dem Klerikerstand vor. Der vom Landgericht Braunschweig im Jahr 2012 zu sechs Jahren Haft verurteilte Priester Andreas L. aus Salzgitter ist aus dem Priesterdienst entlassen worden. Zur Zeit warten wir das rechtskräftige Urteil gegen den Ruhestandsgeistlichen Peter R. ab, der als einer der Haupttäter am Berliner Canisius-Kolleg gilt und sich auch im Bistum Hildesheim in diversen Fällen schuldig gemacht haben soll.

Kirchen haben stets moralische und geistige Deutungshoheit beansprucht. Gilt das noch?

Ich glaube, es wäre gut, wenn die Kirche weniger über Moral reden würde. Was Kirche weiter machen muss, ist den Menschen bei der Deutung von Schlüsselmomenten zu helfen: plötzliche Krankheiten, Jobverlust, der Tod von lieben Menschen. All diese Fragen der Zerbrechlichkeit des Lebens, aber auch unsere Sehnsüchte, muss die Kirche mehr in den Vordergrund stellen. Was uns ausmacht, was das Leben lebenswert macht, ist nicht die aufgeklärte Vernunft, das Kalkül, sondern das Herz und die Wärme.

Papst Franziskus hat den Missbrauch jüngst als „monströs“ bezeichnet. Reicht das?

Nein, wir brauchen klare Veränderungen, externe Gerichte. Wir brauchen eine gleichartige Herangehensweise. Das Problem der katholischen Kirche ist, dass wir es zum Teil mit unterschiedlichen Gesetzen in Polen, den USA, dem Kongo oder den Philippinen zu tun haben. Wir brauchen mit Blick auf den Missbrauchs-Skandal weltweit eine eindeutige Handhabe.

Die katholische Kirche steckt in einer Jahrtausendkrise. Muss man jetzt über die Sexualmoral und über den Pflichtzölibat reden?

Wir müssen in der Kirche unsere Vorstellungen über sexuelle Moral neu formulieren, ja. Wir müssen einen angemessenen Zugang finden. Was den Zölibat betrifft, glaube ich nicht, dass es einen direkten Zusammenhang zur sexualisierten Gewalt gibt. Die Behauptung wäre zu steil, dass es ohne Zölibat auch keine sexualisierte Gewalt in der Kirche mehr gibt. Den Zölibat selbst halte ich für eine spannende Lebensform. Er ist unorthodox, gegen den Mainstream. Es ist aber gut, dass wir darüber reden, ob er freigestellt werden kann.

Psychologen sehen doch durchaus einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und dem Missbrauch in der Kirche.

Ich lese diese Studien auch. Es scheint offensichtlich, dass die Kirche durch den Zölibat sexuell unreife Männer angezogen hat. Das verlangt aber nicht die Abschaffung des Zölibates. Wir müssen die Aufnahmekriterien zum Priesteramt verschärfen, die Ausbildung reformieren. Ich möchte an dieser Stelle eine Bresche schlagen für Menschen, die auch außerhalb des Priesteramtes zölibatär leben – und ganz gut leben.

Öffnet die katholische Kirche jetzt auch die Spitzenämter für Frauen?

Diese Frage ist mir zu schwach.

Warum?

Die Kirche muss sich für Frauen in Spitzenämtern öffnen. Im Bistum Hildesheim sind wir bereits dabei. Wir haben mit Dr. Dagmar Stoltmann-Lukas erstmals in der 1200-jährigen Geschichte des Bistums eine Frau als persönliche Referentin des Bischofs. Bisher waren das immer Männer und bis auf eine Ausnahme auch immer Priester. Dass mich Frau Dr. Dagmar Stoltmann-Lukas berät, ist bereichernd für mich und ein erster Schritt. Ich werde weitere gehen, um Spitzenpositionen mit Frauen zu besetzen.

In den Gemeinden vor Ort ist das Priesteramt wichtig und sichtbar. Was ist mit Frauen im Amt?

Über das Thema sollten wir sprechen. Es gibt bereits viele Frauen, die als Pastoral- oder als Gemeindereferentin arbeiten und gemeinsam mit Priestern für Gläubige tätig sind.

Auf der Kanzel stehen aber meist noch die Männer.

Das ist nicht ganz richtig. Für die Eucharistiefeier trifft das zu, für den Wortgottesdienst aber nicht. Im Flächen-Bistum Hildesheim gelingt es uns schon heute nicht mehr, sämtliche Pfarreien mit einem Priester zu besetzen. Wir haben oft ein Team von Verantwortlichen vor Ort. In den meisten Teams sind Frauen. Da hat sich schon viel geändert.

Glen Mapp aus Weddel fragt: Wann kommt das dritte Vatikanische Konzil? Seit 1963 hat die katholische Kirche keine relevanten Reformen mehr unternommen.

Die Frage ist exzellent. Da müsste ich den nächsten Papst fragen. Das zweite Vatikanische Konzil war so wuchtig und so modern, dass wir immer noch nicht alle Neuerungen umgesetzt haben. Papst Franziskus ist der erste Papst, der komplett die Neuerungen des zweiten Konzils umsetzt. Die katholische Kirche ist ein großer Tanker, der durch das zweite Konzil ein Wendemanöver eingeleitet hat.

Wir leben aber in einer schnelllebigen Zeit. Die Kirche droht abgehängt zu werden.

In einer schnelllebigen Zeit tun manche Konstanten gut. Wir sind zu kurzatmig geworden. Eine gewisse Ruhe ist heilsam. Viele sehnen sich nach einer Verlässlichkeit. Ein nicht hysterisches Durchhaltevermögen ist wie Balsam auf der Seele.

Aber rauscht gerade mit Blick auf den Skandal nicht eine neue Austrittswelle auf die Kirche zu?

Jeder einzelne Austritt ist bitter. Ich kann Menschen verstehen, wenn sie wegen des fürchterlichen Themas der Kirche den Rücken kehren. Ich sehe in der Gesellschaft aber eine große Sehnsucht nach Spiritualität, nach Tiefgang. Die Frage nach Halt und welche Rolle Gott dabei spielen kann, ist ein großes Thema.

Schon jetzt bejahen nur sieben Prozent der Deutschen den Satz: „In meinem Alltag spielt der Glaube eine große Rolle.“

Ich halte dagegen. Die Frage ist: Was ist Glaube? Schon die Entscheidung für einen Partner setzt ein tiefes Vertrauen voraus. Der andere bleibt mir immer ein Geheimnis, ich glaube aber an ihn. Ohne Glaube kann ich nicht leben. Ohne Religion kommen wir nicht aus.

Im Mittelpunkt des Lebens steht zunehmend das eigene Ich. Erreicht die Kirche die Menschen mit ihren Botschaften noch?

Die Kirche tut sich schwerer damit, die Leute zu erreichen. Sie muss mehr in soziale Medien investieren. Sie muss das Solidarische mehr in den Mittelpunkt rücken. Ich kann nur dann gut leben, wenn es meinem Nachbarn gut geht. Die Kirche, die Getauften, müssen noch mehr Anwalt derer sein, die durch das Raster fallen, die in Not sind.

Sie haben vor Ikea-Religionen gewarnt. Wie meinen Sie das?

Ich habe schon Sorge, dass ich Ärger aus Schweden bekomme (er lacht). Wir basteln uns ein bisschen Hinduismus, ein bisschen Yoga, ein bisschen Taichi, etwas Neuplatonismus, christliche und jüdische Elemente zusammen.

Was ist daran gefährlich?

Wir werden noch individueller. Die Gemeinschaft, die uns trägt, könnte zerbröseln.

Zur Person: Heiner Wilmer wurde 1961 im Emsland als Kind einer Bauernfamilie geboren. Er studierte von 1981 bis 1986 Theologie in Freiburg und Romanistik in Paris. 1987 wurde Wilmer zum Priester geweiht. Er studierte Philosophie in Rom und promovierte in Freiburg in Fundamentaltheologie, ehe er am gleichen Ort Geschichte studierte und sein I. Staatsexamen ablegte. Wilmer wurde Referendar an einem Meppener Gymnasium und unterrichtete in Vechta. Dann arbeitete er als Lehrer im New Yorker Stadtbezirk Bronx. Wilmer kehrte zurück, wurde 2007 Schulleiter eines Gymnasiums im Emsland. 2015 wurde er Generaloberer der Herz-Jesu-Priester in Rom. Seit September 2018 ist Wilmer Bischof von Hildesheim. Das Bistum Hildesheim im überwiegend protestantischen Norden ist flächenmäßig das drittgrößte in Deutschland. Es umfasst 119 Pfarrgemeinden mit etwa 600.000 Katholiken, reicht von Südniedersachsen und unserer Region bis zur Nordseeküste. Es ist eines der ältesten Bistümer Deutschlands. 2015 feierte das Bistum 1200-jähriges Bestehen.