Braunschweig. Brexit: Pharmaverbände warnen vor Arzneimittel-Engpässen. Gesundheitsministerium: „Derzeit gibt es keine Hinweise auf ernste Probleme.“

„Brexit! Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, dass ein sehr hoher Prozentsatz der in Deutschland verbrauchten Medikamente aus dem Vereinigten Königreich kommen? Was erwartet uns? Mangel, Preisexplosion?“

Dies schreibt ein Leser, der sich „pzbtl“ nennt, im Kommentarbereich unserer Internetseite.

Zum Thema recherchierte Andreas Eberhard

Lieferengpässe – seit Jahren gehören sie für viele Apotheken in Deutschland zum Alltag. Ob Blutdrucksenker wie Metoprolol, Schmerzmittel wie Metamizol oder Diabetesmedikamente wie Liraglutid: Bei 90 Prozent aller Apotheken wird es innerhalb von drei Monaten knapp bei einzelnen Arzneimitteln. Dies ergab eine Umfrage der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker. Eine Ursache der Engpässe ist das immer komplexere Netz von Liefer- und Herstellungsketten. „Im Zeitalter von Globalisierung, Spezialisierung und Kostendruck können Qualitätsprobleme einzelner Wirkstoffhersteller in Fernost die Produktion in Europa verlangsamen oder sogar lahmlegen“, sagt Christian Splett, Pressereferent der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.

Je stärker die Vernetzung, umso größer ist die gegenseitige Abhängigkeit. Daher ist es kein Wunder, dass der bevorstehende Brexit die Sorge nicht nur unseres Lesers nährt, in Großbritannien hergestellte oder zugelassene Medikamente könnten künftig nicht mehr ohne Weiteres in Deutschland verfügbar sein. Zumal ein ungeregelter Ausstieg des Vereinigten Königreichs zuletzt nicht unwahrscheinlicher geworden ist. Was würde ein solches Szenario für die Versorgung mit Medikamenten bedeuten?

„Chaotische Zustände“?

Großbritannien spielt eine große Rolle im europäischen Arzneimittelmarkt. Viele Roh- und Wirkstoffe kommen über die Insel in die anderen Länder der EU. Nach Angaben des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller BAH liegt der Marktanteil aus Großbritannien stammender Arzneimittel in Deutschland bei etwa neun Prozent. Deshalb warnt der Verband eindringlich vor einem „No-Deal-Brexit“: Ein ungeordneter Austritt Großbritanniens könne zu „chaotischen Zuständen“ führen – „mit unabsehbaren Folgen für die Arzneimittelversorgung in den verbleibenden EU-Staaten“. Sollten nach einem Brexit Grenzkontrollen oder andere bürokratische Hürden eingeführt werden, dann erwartet der BAH Störungen in der Lieferkette – vor allem bei Arzneimitteln, die gekühlt werden müssen.

Um zu verhindern, dass die Versorgung von Patienten gefährdet wird, legen deutsche Arzneimittel-Hersteller laut BAH schon heute Vorräte mit britischen Pharmaprodukten an. „Insbesondere Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen müssen weiterhin ihre gewohnten Arzneimittel erhalten“, mahnt Elmar Kroth, der wissenschaftliche Geschäftsführer des Verbands. Wenn das gewohnte Präparat nicht verfügbar ist, sollen und müssen Apotheken ein wirkstoffgleiches Medikament beschaffen oder mit dem Arzt wegen eines neuen Rezeptes für einen anderen Wirkstoff telefonieren. Dies, stellt Apotheken-Sprecher Splett klar, gelte unabhängig vom Brexit: „Kein Patient darf unversorgt bleiben.“

Die Apotheken beobachten „die aktuelle Situation in Brüssel mit größter Wachsamkeit“ und nehme die Sorgen von Patienten sehr ernst, schreibt Splett. Mit Verweis auf entsprechende Prognosen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erwartet die Apothekervereinigung aber „keinen Engpass bei „als versorgungsrelevant eingestuften Arzneimitteln“.

Damit schätzen die Apotheker die Lage ähnlich ein wie das Gesundheitsministerium. Auch hier wird die Sorge vor „chaotischen Zuständen“ nicht geteilt. Auf eine Anfrage unserer Zeitung heißt es aus dem von Jens Spahn (CDU) geleiteten Ressort, dass es keine Hinweise auf „ernsthafte Probleme“ gebe.

Die größte Brexit-Frage für die Pharmabranche ist die der Zulassungen von Medikamenten. Viele Pharmazeutika, die in Europa verkauft werden dürfen, sind über die britische Behörde Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency MHRA für den Handel in Europa zugelassen. „Diese Zulassungen von Arzneimitteln würden bei einem harten Brexit schlagartig gegenstandslos“, erklärt der Europaabgeordnete Bernd Lange (SPD), der dem Handelsausschuss des Parlaments vorsitzt. Dieses Problem sei allerdings längst erkannt worden.

Um ihre Produkte weiter in der EU vertreiben zu können, müssen die Pharmahersteller mehrere Bedingungen erfüllen: Zum einen müssen sie, sofern dies nicht ohnehin schon der Fall ist, mindestens einen Firmensitz in eines der verbleibenden EU-Länder legen. Jedes Pharmaunternehmen soll so auch künftig mit verantwortlichen Ansprechpartnern in der EU präsent sein. Vor allem bedeutet der Brexit für die Pharmaindustrie jedoch, dass die MHRA – bisher eine der führenden Aufsichtsbehörden – künftig für Zulassungsverfahren in der EU ausfällt. Für die Unternehmen heißt das: Sie müssen die Zulassungsverfahren ihrer Produkte aus Großbritannien auf Behörden anderer EU-Länder verlagern. Das dem Bundesgesundheitsministerium unterstellte BfArM übernimmt mit rund einem Viertel den größten Teil des vormals britischen Arbeitspensums.

Hierfür wurden die Kapazitäten der Behörde deutlich aufgestockt: Für diese und weitere zusätzliche Aufgaben rund um die Folgen des Brexit hat das BfArM nach eigenen Angaben bislang 21 neue Stellen geschaffen. Die weitere Verantwortung, möglichen Brexit-Schäden vorzubeugen, liege bei den Unternehmen: „Wir haben die pharmazeutische Industrie seit Beginn der Brexit-Planungen wiederholt mit Nachdruck aufgefordert, ihre Hausaufgaben zu machen und rasch zu handeln, wenn Unternehmen neue Zulassungen oder ein neues verfahrensführendes Land benötigen, um einen Übernahmestau kurz vor Inkrafttreten des Brexit zu vermeiden“, schreibt BfArM-Sprecher Maik Pommer unserer Zeitung.

Darüber, wie weit die Übertragung der Verfahren von der MHRA auf andere europäische Institutionen bereits gediehen ist, hat das BfArM keine Zahlen. Der Europaparlamentarier Lange sagt jedoch: „Der Löwenanteil der betroffenen Zulassungen ist bereits in die EU verlagert worden.“ Nur bei rund 30 Präparaten, die Hälfte davon für die Behandlung von Tieren, stehe der „Switch“ noch aus. „Aber auch da wird noch eine Lösung gefunden“, zeigt sich der Sozialdemokrat zuversichtlich. Zudem habe das Europäische Parlament bereits Gesetze verabschiedet, die eine europäische Anerkennung der britischen Zulassungen auch weiterhin sicherstellten. Deshalb, so Lange, könne er die Chaos-Warnungen der Pharmahersteller nicht recht nachvollziehen.

Für übertrieben hält auch Evert-Jan van Lente, Europaexperte des AOK-Bundesverbands, die Warnungen des Pharmaverbands vor Störungen. Bei fast allen neueren Medikamenten-Zulassungen handele es sich ohnehin um zentrale Genehmigungen durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA. „Die Pharmaunternehmen dürften auch für die meisten Produkte mit einer älteren britischen Zulassung längst die EU-Zulassung besitzen“, antwortet er unserer Zeitung. „Es gibt vermutlich nur noch ganz wenige umsatzschwache Medikamente, die ausschließlich eine britische Zulassung haben und deshalb bei einem harten Brexit nicht mehr in der EU verkauft werden dürften.“