Braunschweig. Die Polizei in Niedersachsen braucht Verstärung. Mindestens 300 zusätzliche Stellen fordert die Gewerkschaft der Polizei.

In Niedersachsen gibt es so viele Polizisten wie noch nie zuvor: Gute 25 000 Beschäftigte zählt die Gewerkschaft der Polizei (GdP), darunter gute 22 000 Polizisten im Vollzugsdienst. Dennoch sagt GdP-Landeschef Dietmar Schilff: „Wir brauchen Verstärkung.“ Warum das so ist, erklärte er im Gespräch mit Armin Maus und Andre Dolle. Er sprach auch über das schwierige Verhältnis zur AfD.

Die Große Koalition in Niedersachsen hatte angekündigt, 1500 zusätzliche Polizeistellen bis Ende 2022 schaffen zu wollen. 500 Stellen gibt es. Im Haushalt 2019 ist bisher aber keine weitere Stelle vorgesehen. Was hakt da?

Uns geht es ja auch um Beförderungen. 500 Stellen sollen von der Besoldungsstufe A 9 auf A 11 gehoben werden, was im kommenden Jahr 1000 zusätzliche Beförderungen ermöglicht. Das ist sehr erfreulich. Dieses Jahr wurden bereits 500 zusätzliche Polizisten eingestellt, was sehr gut ist. Was die 1000 zusätzlichen Polizeistellen anbetrifft, haben wir aber noch keine Rückmeldung erhalten. Die Lehrtätigkeit an der Polizeiakademie wurde dieses Jahr bereits hochgefahren. Kommen die zusätzlichen Stellen nicht, muss das wieder heruntergefahren werden. Die Landesregierung muss die zusätzlichen Stellen jährlich und somit kontinuierlich aufbauen.

Werden Sie den Druck erhöhen?

Ich habe am Dienstag Briefe an die Landtagsfraktionen verschickt und 250 bis 300 zusätzliche Stellen für 2019 gefordert. Wir brauchen außerdem mehr Geld für Technik und Ausstattung, für den Fahrzeugpark, Helme, Westen und Bodycams. Das soll angeschafft werden und darf nicht aus dem bestehenden Etat der Polizei bezahlt werden.

Es gibt also kein zusätzliches Geld vom Land?

Im Haushaltsentwurf der Landesregierung ist das bisher nicht vorgesehen. Innenminister Boris Pistorius lobt zum Beispiel die Anschaffung neuer kugelsicherer Überziehwesten. Das geht aber nicht ohne zusätzliches Geld.

Wie viele Polizisten haben wir derzeit in Niedersachsen?

Wenn wir alles zusammenrechnen, haben wir 25 000 Polizeibeschäftigte. Da sind 22 000 Polizisten im Vollzugsdienst dabei sowie die Beschäftigten aus den Verwaltungsbereichen, die alle gemeinsam wichtige Arbeit für die innere Sicherheit leisten.

Wie kann es denn sein, dass die Große Koalition das Ziel ausgibt, zusätzliche Polizisten einzustellen, das aber im Haushalt 2019 nicht berücksichtigt?

Uns wird gesagt, dass es dann später einen größeren Stellenaufwuchs geben wird. Aus der praktischen Sichtweise ist das aber ein großes Problem. Das Lehrpersonal wurde ja bereits aufgestockt.

Wo ist denn der Schuldige zu suchen? Im Innenministerium oder im Finanzministerium?

Dem Finanzministerium war die Vorgabe des Innenministeriums offensichtlich zu hoch. Die Landesregierung setzt wichtige Schwerpunkte auf Digitalisierung oder die Beitragsfreiheit in den Kitas. Finanzminister Reinhold Hilbers hat gesagt, dass es uns in Niedersachsen derzeit finanziell sehr gut geht. Die Steuereinnahmen sprudeln, hinzu kommt die Bußgeld-Milliarde von VW. Wenn wir die innere Sicherheit jetzt nicht stärken, wann dann? Die Bürger wollen das. Im Koalitionsvertrag steht sogar, dass die Große Koalition prüfen will, bis zu 3000 Polizisten zusätzlich einzustellen.

Worauf kommt es Ihnen nun an?

Uns geht es um Kontinuität. Wir brauchen seit Jahren eine Verstärkung der Polizei. Wir haben eine hohe Krankenquote, einen hohen Altersdurchschnitt. Wir fahren Einsätze ohne Ende. Das gilt vor allem für die Bereitschaftspolizei. Beim G20-Gipfel in Hamburg Mitte letzten Jahres waren 2000 Polizisten aus Niedersachsen im Einsatz, bei Fußball-Spielen, bei Neonazi-Demos wie in Goslar vor wenigen Monaten, auch bei den Demonstrationen im Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen waren Einsatzkräfte aus Niedersachsen dabei. So etwas ist zur Normalität geworden.

Hinzu kommen die hohen Abbrecherquoten in der Ausbildung.

Ja, einige schaffen das Studium nicht oder hören vorher auf. Beim letzten Studienjahrgang waren das etwa zehn Prozent. Das muss bei der Stellenplanung einkalkuliert und kompensiert werden.

Minister Pistorius spricht vom höchsten Personalstand bei der Polizei in der Geschichte Niedersachsens. Es reicht also nicht aus?

Viele Polizisten gehen auf dem Zahnfleisch. Das melden sie uns zurück. Ex-Finanzminister Hartmut Möllring hat mal gesagt: Die Gewerkschaften müssen diese Sätze ja sagen. Ja, richtig, das ist unser Auftrag, etwas an der misslichen Lage vieler Polizisten zu ändern – und so auch für eine bessere Sicherheit der Bürger zu sorgen.

Anzahl der Polizisten je 100.000 Einwohner in Deutschland-01.jpg

Wie kann es denn sein, dass es den höchsten Polizeistand in Niedersachsen gibt, andererseits die Dienststellen aber nicht voll besetzt sind, wie immer wieder zu hören ist. Läuft da organisatorisch etwas falsch?

Ich hatte die zusätzlichen Aufgaben und die hohe Krankenquote ja schon genannt. Die Leute werden zudem aus dem täglichen Dienst herausgezogen, um sich an Einsätzen zu beteiligen. Das liegt auch daran, dass die Bereitschaftspolizei immer häufiger im ganzen Bundesgebiet im Einsatz ist.

Bei der Neonazi-Demo in Goslar Anfang Juni, bei der 2500 Polizisten im Einsatz waren, haben auch Bereitschaftspolizisten aus anderen Bundesländern unterstützt. Das ist ja ein Geben und Nehmen.

Es gibt drei Bundesländer, die viele Bereitschaftspolizisten haben: Nordrhein-Westfalen, Bayern und eben Niedersachsen. Diese unterstützen dann auch die kleineren Bundesländer. Das heißt, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die eine sehr gute Arbeit leisten, oft unterwegs sind.

Haben Sie die zum Teil heftigen Reaktionen gegen das geplante Polizeigesetz überrascht? Es gab lange nicht mehr so viele Transparente, Demonstrations-Teilnehmer, Leserbriefschreiber und Kommentatoren in den sozialen Netzwerken wie zu dem Thema.

Wir sehen auch nicht alles unkritisch. Es ist unklar, wie man ausgerechnet auf 74 Tage Präventivhaft für Gefährder kommt. Die CDU wollte 18 Monate, die SPD zwei Wochen, da hat man sich offensichtlich auf diese 74 Tage geeinigt. Nordrhein-Westfalen zieht einen ähnlichen Gesetzesentwurf zurück, macht Änderungen.

In Niedersachsen gab es eine dreitägige intensive Anhörung im Landtag. Es waren Juristen, Datenschützer, Wissenschaftler und Gewerkschaften da. Ich habe für die GdP gesprochen. Ich finde es ausgesprochen wichtig, dass sich mit dem Gesetz intensiv auseinandergesetzt wird und man viele zu Wort kommen lässt. Das zeichnet unseren Rechtsstaat und die Demokratie aus. Wir kritisieren aber diejenigen, die ein Plakat hochhalten, auf dem steht: Freiheit statt Polizeistaat. Die wissen offensichtlich nicht, was ein Polizeistaat ist.

Was bringt das Gesetz Ihren Mitgliedern denn in der Praxis?

Wir haben eine hohe Zustimmung der Bürger in polizeiliche Maßnahmen. Bei dem neuen Gesetz geht es um Gefahrenabwehr. So sollen insbesondere islamistische Terroranschläge besser verhindert werden können. Das Gesetz richtet sich gegen Gefährder, nicht gegen normale Bürger. Wir haben in Niedersachsen laut LKA rund 70 Gefährder. Der Gesetzesentwurf ist aber nicht nur für die Polizei. Er gilt auch für die Ordnungsbehörden der Kommunen.

Die Polizei soll Onlinedurchsuchungen vornehmen können und Kommunikation überwachen, bevor sie verschlüsselt wird. Wozu braucht es diesen Staatstrojaner?

Kein normaler Bürger braucht künftig Angst davor zu haben, abgehört oder ausspioniert zu werden. Es ist aber notwendig, die Kommunikation von mutmaßlichen Terroristen mitzubekommen, damit wir erfahren, was dort besprochen und verabredet wird. Durch die Mithilfe ausländischer Geheimdienste hatten deutsche Sicherheitsbehörden zum Beispiel den Anschlag der sogenannten Sauerlandbande verhindert. Aber es kann ja nicht sein, dass wir auf diese Hilfe angewiesen sind.

Dass es sich um sensible Daten handelt, ist aber klar.

Die Sicherheitsbehörden müssen eine konkrete Gefahr nachweisen. Ein Richter muss grünes Licht geben. Die Polizei führt ohne richterlichen Beschluss keine Telekommunikationsüberwachung durch.

Nach dem NSA-Skandal ist das Vertrauen in Behörden begrenzt.

Es ist ja auch richtig, dass man sich darüber austauscht. Es gibt einen Ausschuss mit Landtagsabgeordneten, der sich mit solchen Fragen befasst. Dem Ausschuss wird kontinuierlich ein Bericht mit den Überwachungen von Verfassungs- und Staatsschutz vorgelegt.

Die Grünen haben sich zu einer Art Speerspitze des Protests gegen das Gesetz entwickelt. Was halten Sie davon?

Das ist das gute Recht der Grünen. Ich halte nur nichts davon, wenn von einem Polizeistaat die Rede ist. Wir haben ein sehr gutes Gemeinwesen, einen funktionierenden Rechtsstaat, eine bürgernahe Polizei. Um das alles beneiden uns andere.

Der DGB-Landesvorsitzende Mehrdad Payandeh ist vor 30 Jahren aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. Er erzählt, dass sein erster Kontakt in Deutschland zwei Polizisten waren. Er habe zuvor noch nie so freundliche Polizisten kennengelernt. Ich bin für eine Auseinandersetzung über das Gesetz. Aber bitte ruhig und sachlich.

Was halten Sie vom Plakat, das zuletzt bei einem Spiel von Eintracht Braunschweig in der Fankurve zu sehen war? Darauf stand: „Kämpfe für deine Freiheit ­– Auf nach Hannover“. Dort fand die Großdemo gegen das Gesetz statt.

Das hat mich schon aufgeregt, hier von einem Freiheitskampf zu reden. Das war das Spiel im DFB-Pokal gegen Hertha BSC Berlin. Im Stadion war auf Din-A4-Zetteln auch zu lesen: „Taser-Einsatz bei Demonstrationen.“ Solche Sätze bringen eine völlig unberechtigte Unruhe in die Diskussion. Das Distanzelektroimpulsgerät wird von Spezialeinsatzkommandos eingesetzt. Bei Demonstrationen würde es nie eingesetzt werden. Hier wird unberechtigt Angst geschürt.

Das alte Gesetz ist über zehn Jahre alt. Damals waren zum Beispiel Smartphones kaum verbreitet.

Deshalb muss das Gesetz unter anderem auch angeglichen werden. Zwölf Länder geben sich gerade neue Gefahrenabwehrgesetze. Ein einheitliches Musterpolizeigesetz wäre aber besser. Die Bayern sprechen von drohender Gefahr, in Niedersachsen ist es die dringende Gefahr. Es gibt also erhebliche Unterschiede. Für die Bürger ist das schwer nachzuvollziehen. Wichtig ist, dass sich für das neue Gesetz Zeit genommen wird. Ich rechne nicht damit, dass es noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Eine verfassungsrechtliche Überprüfung ist natürlich auch jederzeit möglich.

Die Gewerkschaften wollen verstärkt das Thema Populismus angehen. Was schwebt Ihnen vor?

Seit dem Vorfall mit dem LKA-Mitarbeiter in Dresden wird der Polizei in Sachsen von einigen vorgehalten, dass eine hohe Zahl der Polizisten Pegida-freundlich sei. Das muss geklärt werden. Auch in Niedersachsen und anderen Ländern muss das Thema Populismus intensiv behandelt werden.

Gibt es viele AfD-Mitglieder bei der Polizei in Niedersachsen?

Soweit ich weiß, gibt es auch AfD-Mitglieder bei der Polizei in Niedersachsen. Bei der Landtagswahl in Hessen kandidieren drei Polizisten auf der AfD-Liste, anderswo gibt es sicherlich auch AfD-Mitglieder bei der Polizei. Die AfD ist ja nicht verboten, dennoch ist sie deshalb nicht automatisch demokratisch. Etliche Äußerungen sind unterirdisch, wie wir ja alle wissen.

Ihre Gewerkschaft kann ein Ausschlusskriterium formulieren.

Das diskutieren alle Gewerkschaften gerade. Wir müssen besprechen, wie wir mit Populismus und der AfD umgehen. Nach unserer Auffassung ist das keine demokratische Partei. Die AfD sprach in Niedersachsen in einem Antrag im Landtag von einem „Endkampf der Demokratie“, und einige Mitglieder entscheiden sich dagegen, Positionen für Toleranz zu unterzeichnen. Unter diesen Konditionen führen wir mit der AfD in Niedersachsen erst mal keine Gespräche.

Ist es richtig, dass die AfD-Jugend in Niedersachsen vom Verfassungsschutz beobachtet wird?

Nach den bekanntgewordenen Erkenntnissen ist das eine Notwendigkeit. Die Verfassungsschutzbehörden der Länder bewerten ja gerade, ob die AfD insgesamt beobachtet werden soll.