Braunschweig. Das Musterverfahren gegen Volkswagen hat am Montag in der Braunschweiger Stadthalle begonnen. Das Interesse der Öffentlichkeit ist groß.

Wer steckt hinter dem Musterverfahren?

Das fragt unser Leser Martin Kämmer aus Braunschweig.

Aus der Braunschweiger Stadthalle berichtet Andreas Schweiger

Schon eine Stunde vor Prozessbeginn am Montagmorgen herrschte vor der Stadthalle Braunschweig großer Rummel. Dafür sorgten rund 50 Juristen und fast ebenso viele Medienvertreter. Auch einige Beobachter zog dieses ungewöhnliche Verfahren an, in dem es um die zivilrechtliche Aufarbeitung des vor drei Jahren bekannt gewordenen VW-Abgas-Betrugs geht. In Summe sind etwa 120 Menschen zur Verhandlung gekommen.

Weil dieser Andrang erwartet wurde, hat das Oberlandesgericht Braunschweig die Stadthalle als Verhandlungsort für das Kapitalanleger-Musterverfahren ausgewählt. Beklagt sind VW und die Porsche-Holding SE (PSE), die die Beteiligungen der Familien Porsche und Piëch an VW bündelt. Musterkläger ist die Sparkassen-Fonds-Gesellschaft Deka-Investment.

Der Ausgang des Musterverfahrens ist bindend für 1644 weitere Anleger-Klagen, die am Landgericht eingegangen sind. Dahinter stehen Schadenersatz-Forderungen von knapp vier Milliarden Euro. Das Musterverfahren soll vermeiden, dass jede Klage einzeln verhandelt werden muss.

Zudem gibt es am Landgericht Braunschweig 23 weitere Klagen, die nicht vom Musterverfahren erfasst sind. Hinter diesen Klagen stehen Forderungen von weiteren fünf Milliarden Euro. Die Kläger werfen dem Autobauer und der PSE vor, sie nicht rechtzeitig über die Folgen des Abgas-Betrugs informiert zu haben – ­ so wie es die Ad-hoc-Mitteilungspflicht vorschreibt. Durch die Kursverluste sei ihnen wirtschaftlicher Schaden entstanden. VW hält alle Ansprüche für unbegründet.

Wer gestern in der Stadthalle Braunschweig die Leibesvisitation durchlaufen hatte, geriet in eine Veranstaltung, die nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig war. Ziel des Musterverfahrens ist nicht eine Verurteilung zum Schadenersatz oder eine Klageabweisung. Stattdessen wird über sogenannte Feststellungsziele verhandelt, die am Ende des Verfahrens Bestandteil des Musterentscheids sind. Beantragt werden die Feststellungsziele vom Kläger und vom Beklagten. In dem Musterverfahren werden rechtliche Bewertungen getroffen und Inhalte bestimmt, die bindend sind für die weitere Verhandlung der vom Musterverfahren erfassten Schadenersatzprozesse vor dem Landgericht Braunschweig. Ganz einfach gesagt: In dem Musterverfahren werden die wichtigen von den unwichtigen Inhalte der Klagen getrennt.

In Summe wird in dem Musterverfahren über 193 Feststellungsziele verhandelt, die in 28 Themenblöcke gegliedert sind. Nach Angaben des Vorsitzenden Richters Christian Jäde, der mit seinen Kollegen Nicolai Stephan und Friedrich Hoffmann den Senat bildet, wird sich das Gericht noch mit Erweiterungsanträgen befassen, die weitere 54 Feststellungsziele beinhalten. Verhandelt wird zunächst über die von der Klägerseite beantragten Feststellungsziele.

Jäde gab sich alle Mühe, verstanden zu werden. Er sprach nicht zu schnell, gut verständlich, beinahe sanft. Im Umgang mit den Anwälten beider Seiten war er freundlich-distanziert. Sein Aufführen von Paragrafen und früheren Urteilen, von Einschätzungen des Gerichts sowie der Inhalte der Feststellungsziele über viele Stunden erforderte von den Beteiligten ein hohes Maß an Konzentration. Die Anwälte von VW und der Porsche SE äußerten sich nur spärlich. Lediglich Rechtsanwalt Andreas Tilp, der den Musterkläger Deka Invest vertritt, provozierte die überschaubaren Diskussionen. Tilp ist der Auffassung, dass die von VW am 22. September 2015 veröffentlichte Ad-hoc-Meldung über die Auswirkungen des Abgas-Betrugs viel zu spät kam. Nach seiner Auffassung hat der Betrug schon 2008 begonnen, als VW die mit der Betrugssoftware ausgestatteten Diesel-Motoren in den USA zertifizieren ließ.

Richter Jäde wollte sich nicht auf diese Diskussion einlassen. Schadenersatzansprüche könnten für diesen Zeitraum verjährt sein, lautet seine Einschätzung. Anders sei es mit Ansprüchen, die sich auf die Zeit nach dem 10. Juli 2012 beziehen – zu diesem Zeitpunkt wurde das Wertpapier-Handelsgesetz samt Verjährungsfrist neu geregelt. Tilp wertete diese Aussage als Erfolg: „Damit hat der Senat einen Pflock eingeschlagen. Wir sind zuversichtlich, dass es Geld gibt.“

Doch hat Richter Jäde noch andere Einwände. So stelle sich die Frage, inwieweit sich aus dem Verhalten beziehungsweise Fehlverhalten von VW eine Kursrelevanz und damit eine Ad-hoc-Pflicht ableiten lasse. Eine weitere zentrale Frage, die noch nicht beantwortet ist: Wer wusste wann was bei Volkswagen? Auf diese Antwort warten nicht nur die Kläger im Musterverfahren.

Jäde machte auch deutlich, dass seine Einschätzung nur eine vorläufige Beurteilung sei. „Die rechtlichen Problemstellungen sind zum Teil so komplex, dass eine Festlegung des Senats auf einen Lösungsweg zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist“, sagt er. Aufklärung erhofft er sich von ergänzenden Stellungnahmen der Beteiligten.

VW äußerte sich gestern zurückhaltend. „Das Gericht hat sehr sachlich und ordnend in den Sach- und Streitstand eingeführt und einen Überblick über seine Vorstellungen des weiteren Verfahrensablaufs gegeben“, hieß es aus Wolfsburg.

Die Verhandlung wird heute fortgesetzt, elf weitere sollen folgen.

Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz

Sammelklagen wie in den USA kennt das deutsche Recht nicht. Nur mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – kurz Kapmug genannt – werden erstmals im deutschen Recht vergleichbare kapitalmarktrechtliche Klagen von Anlegern im Streitfall zwischen Unternehmen und Aktionären effektiv gebündelt. Die Begründung für das Gesetz lautete 2005, dass Massenklagen nach der bestehenden Zivilprozessordnung nicht mehr zu bewältigen seien.

Im Kern geht es darum, zentrale Rechtsfragen sämtlicher Fälle vorab von der nächsthöheren Instanz verbindlich entscheiden zu lassen – noch bevor ein Urteil der niedrigeren Instanz vorliegt. Dafür wird aus den ähnlich gelagerten Klagen ein Fall als Exempel herausgegriffen, die übrigen anhängigen Klagen werden ausgesetzt.

Im Fall von Volkswagen machen die Kläger Forderungen von fast 9 Milliarden Euro geltend. Im Musterverfahren selbst, das am Montag vor dem Oberlandesgericht Braunschweig begann, liegt der Streitwert bei knapp 4 Milliarden Euro.

Liegt der Musterentscheid vor, ist er für die Gerichte in allen zuvor ausgesetzten Verfahren bindend. Da das Kapmug gewissermaßen nur zentrale Fragen vorab klären lässt, ist es nicht mit Sammelklagen zu vergleichen, die etwa das US-Rechtssystem kennt (class action).

In den USA müssen Kläger nicht ihren individuellen Schaden nachweisen, sondern nur ihre Zugehörigkeit zur betroffenen Gruppe (class). Daher münden Sammelklagen dort oft in große Vergleiche.