Salzgitter. . Das angeschossene Mädchen leidet bis heute unter den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Mit dem Smartphone will das Mädchen gerade ihren Bruder filmen, der eine Rakete in den Neujahrshimmel schießen will. Da trifft sie etwas von hinten. Ein Schmerz wie ein Hammerschlag. Eine Pistolenkugel durchschlägt den Brustkorb der Zwölfjährigen, verfehlt die Wirbelsäule und große Arterien denkbar knapp. Blut auf ihrem Rücken, sie taumelt in die Arme der Mutter. Schieres Glück, dass der Durchschuss körperlich ohne langfristige Folgen bleibt. Doch innerlich ist sie „zerstört“.

Geschossen hat ein 69-jähriger Mann von der anderen Straßenseite aus etwa 10 bis 15 Metern Entfernung. Mindestens 21 Mal. In „Cowboy-Manier“ aus der Hüfte. Ein schmächtiger Mann, der „lässig“ herumballern wollte. Das hat das Landgericht Braunschweig nun festgestellt – und verurteilte den Türken zu 33 Monaten Haft wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.

Das Schießen zu Silvester scheint verbreitet unter einigen Anwohnern der Diesterwegstraße. Der Angeklagte feuerte schon in zwei Vorjahren mit seiner scharfen 9-Millimeter-Pistole. Seine Nachbarn hantieren mit Schreckschusswaffen. Der schwerkranke alkoholisierte Mann tut es ihnen nach. Doch diesmal sinkt sein Arm mit jedem Schuss. Wohin die Kugeln fliegen, scheint er nicht zu bedenken.

Das Gericht bewertet den Grad seiner Alkoholisierung als strafmildernd. Wie es das Gesetz vorsieht. Und das mit gutem Grund, erklärte Daniela Kirchhof als Vorsitzende der zweiten großen Strafkammer bei der Urteilsbegründung am Dienstag. „Natürlich lässt sich sagen: Man weiß doch, dass Alkohol alles schlimmer macht“, ging sie auf öffentlich geäußertes Unverständnis im Vorfeld ein.

Doch Ali K. sei eben kein Gewohnheitstrinker. Er trinke selten – und wenn, dann in Maßen. Der forensische Psychiater Ulrich Diekmann attestiert ihm massive Erkrankungen: Durchblutungsstörungen, Herz- und Nierenschäden, Krebs. Diekmann sieht gar Anzeichen für Demenz im Anfangsstadium. „Mit seinen schweren Krankheiten darf man keinen Alkohol in größeren Mengen trinken“. Aufgrund dieser Vorbelastungen hätten die 1,6 Promille zur Tatzeit gewirkt wie 2,5 Promille Blutalkohol bei einem Gesunden. Wie „ein mittelschwerer Rausch“. Mit Enthemmung und herabgesetzter Kritikfähigkeit. Im Wiederholungsfall müsse man dem Angeklagten einen fahrlässigen Vollrausch unterstellen, so der erfahrene Gutachter.

Ali K. habe offenbar nicht geahnt, wie sich größere Mengen Alkohol bei ihm auswirken, stellte die Kammer fest. Schuldunfähig macht ihn der Grad der Trunkenheit in ihren Augen jedoch nicht. Er konnte nachladen, als das Magazin mit 13 Kugeln leer geschossen war. Und leugnen, nachdem ein Nachbar ihn am Arm packte und zur Familie des Kindes schleifte. Anschließend versuchte er, die Waffe in einem Eimer seines Badezimmers zu verstecken.

Die Schuldfähigkeit ist nur ein Baustein, um das Strafmaß zu bestimmen, das in diesem Fall zwischen mehr als zwei und zehn Jahren liegen kann. Jeder Punkt für und Wider den Angeklagten werden in die Waagschale gelegt. Gegen ihn wurde die Gefährlichkeit der Waffe gewertet: Bis zu 1600 Meter fliegen die Projektile. In einem Wohngebiet an Silvester eine kaum zu unterschätzende Gefahr. Das hätte er wissen müssen. Es sei nur Zufall gewesen, dass das Mädchen dem Tod entrann, sagte die Kammervorsitzende Kirchhof. Doch obwohl das Kind bis heute unter den Folgen der Tat leidet, zählen für das Gericht auch weitere Punkte zugunsten des 69-jährigen Schützen. Obwohl die Tat betroffen macht. Etwa die glaubhafte Reue des nicht vorbestraften Mannes, die die fünf Richter als „aufrichtig“ einstufen. Der Rentner entschuldigte sich bei der Familie. Er wisse, die Tat sei „nicht wiedergutzumachen“. Er könne es nur versuchen: mit Schmerzensgeld und dem Angebot, die Stadt zu verlassen. Der Angeklagte habe „Verantwortung übernommen“, erklärte Richterin Kirchhof. „Er kann in dieser Situation nicht mehr tun.“

Der Vater des angeschossenen Mädchens bezeichnete das Urteil als gerechte Entscheidung unter den Umständen. „Ansonsten sind wir einfach froh, dass unser Mädchen lebt.“ Sein Anwalt betonte: Eine Bewährungsstrafe, wie sie die Verteidigung forderte, wäre „moralisch nicht vertretbar“ gewesen. Die Entscheidung sei ein Zeichen an die Familie wie auch die Öffentlichkeit: Ein Zeichen, dass man in Deutschland nicht einfach eine illegale Waffe kaufen könne, um damit an Silvester herumzuballern.