Wolfsburg. Offenbar sollen die deutschen Behörden unter Druck gesetzt werden. Deutsche Kläger sehen ihre Vorwürfe gegen Volkswagen bestätigt.

Unsere Leserin Gunda Reichenbach aus Wolfenbüttel fragt:

Werden die Erkenntnisse der amerikanischen Behörden von den deutschen Strafverfolgungsbehörden berücksichtigt?

Die Antwort recherchierten Andreas Schweiger und Dirk Hautkapp

Einen Automatismus, dass aus der Anklage in den USA gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn eine Anklage in Deutschland folgt, gibt es nicht. Das sagte Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Sie ermittelt ebenfalls gegen Winterkorn – wegen des Abgas-Betrugs und in diesem Zusammenhang zudem wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Wie Ziehe betonte, laufen die Ermittlungen in Deutschland und in den USA unabhängig voneinander. Ohnehin seien Rechtssysteme und Prozessregeln sehr unterschiedlich. So gebe es hier keinen Straftatbestand der „Verschwörung“, und die Ermittlungen in den USA würden auch nach Anklageerhebung noch fortgesetzt, was im deutschen Strafrecht nicht möglich sei.

Es sei aber nicht so, dass die Ermittler dies- und jenseits des Atlantiks keinen Kontakt miteinander hätten. „Die Rechtshilfe zwischen beiden Staaten, also auch der Austausch von Informationen, läuft sehr gut und intensiv“, sagte Ziehe. „Die Quellen der Erkenntnis sprudeln auf beiden Seiten des Atlantiks.“ Soll heißen: Die Ermittler in den USA stützen sich auf Erkenntnisse aus Braunschweig – und umgekehrt. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig folge einem früh nach Bekanntwerden des Abgas-Betrugs festgelegten Ermittlungskonzept, sagte er. „Das arbeiten wir nicht nur ab, sondern ergänzen es, wenn es neue Ermittlungsstränge gibt.“

Ob und wann mit einer Anklage gegen die in Zusammenhang mit der Abgas-Thematik 49 Beschuldigten erhoben wird, könne er noch nicht sagen. Ziehe: „Ich halte es für gut möglich, dass die Verteidiger im Diesel-Verfahren im Sommer oder danach volle Akteneinsicht erhalten können. Danach sind wir dann wie bei einem Marathonlauf quasi in der Stadionrunde mit Blick auf die Zielgerade.“

Unabhängig von den strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft klagen in Braunschweig VW-Aktionäre gegen den Autobauer. In diesen Fällen geht es um den zivilrechtlichen Vorwurf der Marktmanipulation. Die These: Die VW-Verantwortlichen haben nicht erst zum Zeitpunkt des offiziellen Bekanntwerdens des Abgas-Betrugs von den Verfehlungen gewusst, sondern deutlich früher. Daher hätten sie die Aktionäre entsprechend früher informieren müssen. Weil das nicht geschehen sei, fordern sie Schadenersatz, denn der VW-Aktienkurs war nach dem Auffliegen des Betrugs im freien Fall abgestürzt.

Um nicht alle Verfahren einzeln verhandeln zu müssen, wurde ein Musterkläger bestimmt – die Sparkassen-Tochter Deka-Investment. Sie wird vertreten von Rechtsanwalt Andreas Tilp aus Kirchentellinsfurt in Baden-Württemberg. Seine These wird von der Anklage Winterkorns in den USA gestützt. Denn die US-Justiz unterstellt Winterkorn, er habe bereits 2014 von der Betrugs-Software gewusst – also deutlich vor dem September 2015, als VW die Verfehlungen in den USA zugab. Zudem sei der einstige VW-Chef seit 2006 ein „Mitverschwörer“.

Unserer Zeitung sagte Tilp: „Dem US-Richter müssen Dokumente vorliegen, die ihn veranlasst haben, die bestehende Anklage gegen VW-Manager um Herrn Winterkorn zu erweitern.“ Das sei eine neue Qualität in der juristischen Aufarbeitung des Abgas-Betrugs. Kritisch äußerte er sich gegenüber den deutschen Ermittlern. Ihnen sei es nicht gelungen, die Aufklärung des Abgas-Betrugs voranzubringen. „Die Amerikaner machen den Job der Deutschen, das kann nicht sein.“

Mit der in Detroit veröffentlichten Anklage gegen Winterkorn haben die Aufräumarbeiten von VW auf dem US-Markt einen herben Dämpfer erfahren. Dabei war Heinrich Woebcken auf der Auto-Show in New York noch richtig in Fahrt gekommen. VW spüre dort wieder Rückenwind, sagte der US-Chef des Konzerns. Steigende Verkaufszahlen, neue Modelle und das Gefühl, dass die Amerikaner „Comeback-Geschichten lieben“, seien sehr positive Signale.

Nun berichteten US-Medien von ungewöhnlich harschen Worten, die US-Justizminister Jeff Sessions für den 70-jährigen Winterkorn fand, dem im Falle einer Verurteilung bis zu 25 Jahre Haft und eine Geldstrafe bis zu 325 000 Dollar (271 000 Euro) drohen. „Wer versucht, die USA zu betrügen, wird einen hohen Preis bezahlen“, sagte der Republikaner.

Sessions macht sich zu eigen, was eine Bundesgerichts-Jury zuvor für erwiesen hielt: Dass die „Intrige bei VW, die gesetzlichen Vorschriften gezielt zu missachten, bis an die Spitze des Unternehmens reichte“ – gemeint ist die Manipulation der Abgaswerte von rund 600 000 Dieselautos in den USA. Winterkorn werden Verschwörung, Betrug, Irreführung von Behörden und Kunden sowie Verstöße gegen Umweltgesetze vorgeworfen.

Aus der 43-seitigen Anklageschrift erschließt sich, dass Winterkorn Aktionäre, Behörden und Öffentlichkeit belogen haben soll, als er am 23. September 2015 von seinem Posten mit der Beteuerung zurücktrat, erst wenige Tage zuvor vom Einsatz illegaler Abschalteinrichtungen in der Diesel-Motorensoftware erfahren zu haben.

Wahr sei im Gegenteil, dass Winterkorn zwischen Frühjahr 2014 und Sommer 2015 mehrfach detailliert von Untergebenen über den Betrug ins Bild gesetzt worden sei. Schlüsselmoment war demnach der „Schadenstisch“ am 27. Juli 2015: Bei einer Sitzung in Wolfsburg sei Winterkorn der Stand der Dinge dargelegt worden. Dem Vorschlag von ranghohen VW-Technikern, gegenüber den US-Aufsichtsbehörden EPA und Carb (Kalifornien) weiter mit verdeckten Karten zu spielen und die Existenz der Manipulations-Software zu leugnen, sei der Boss gefolgt. „Winterkorn stimmte dem Aktionsplan zu“, heißt es in der Anklage, die sich gegen fünf weitere VW-Manager richtet. Zwei andere VW-Manager wurden bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Dass die US-Justiz ausgerechnet an dem Tag, als der neue VW-Chef Herbert Diess auf der Hauptversammlung davon sprach, dass VW „anständiger“ werden müsse, die Altlast Winterkorn ins Schweinwerferlicht zehrt, ist nach Einschätzung von US-Experten eine „demonstrative Erinnerung und viel Symbolik“. Denn solange Winterkorn in Deutschland bleibt, droht ihm kein Prozess, weil er gesetzlich vor einer Auslieferung geschützt ist. Durch die spektakuläre Klage, heißt es inoffiziell in Justizkreisen in Washington, „soll der Druck auf die deutschen Behörden erhöht werden“. Dort ermitteln neben der Staatsanwaltschaft Braunschweig auch die in München und Stuttgart gegen Winterkorn und andere VW Manager.

Was die Amerikaner, deren Präsident Donald Trump im Zollstreit gegen deutsche Autobauer Front macht, dem Vernehmen nach wurmt, ist die „Geheimniskrämerei“ bei VW. Der Konzern hatte für Millionensummen die Kanzlei Jones Day mit internen Ermittlungen im Diesel-Skandal beauftragt, die Erkenntnisse aber bisher nicht einmal mit der deutschen Staatsanwaltschaft geteilt.

Vermutet wird dahinter in Washington, dass „die deutsche Seite ein Szenario scheut“, in dem hohe Schadenersatzklagen gegen Winterkorn & Co. sowie gerichtsfeste Aktionärsproteste den bisherigen Schaden von mehr als 25 Milliarden Euro für VW „dramatisch in die Höhe treiben könnten“.