Braunschweig. Sally Perel wird die Festrede beim Gemeinsam-Preis halten. Der in Peine geborene Jude wurde berühmt als „Hitlerjunge Salomon“.

Ein kräftiges „Schalom“ erklingt vom anderen Ende der Leitung. Das ist knapp 3000 Kilometer entfernt, in der Stadt Giv‘atajim in der Nähe von Tel Aviv. Die Stimme gehört Sally Perel, und dass sie heute den jüdischen Friedensgruß erbieten kann, ist ein kleines Wunder.

Denn der 1925 in Peine geborene Salomon Perel geriet mit seiner Familie in den Sog der von den Nationalsozialisten betrieben systematischen Vernichtung der Juden in Europa. Das letzte, was seine zusammen mit dem Vater und der Schwester ermordete Mutter in Lódz dem 14-jährigen Sally sagte, bevor ihn die Eltern mit seinem älteren Bruder nach Osten schickten, war: „Ihr sollt leben!“

Und er überlebte – doch nicht als der Jude Salomon, sondern als Hitlerjunge Josef Perjell, genannt Jupp. Perels Geschichte ist so unglaublich, dass sie noch immer Schüler in Israel und Deutschland, in Polen und Spanien und überall sonst, wo der mittlerweile 91-Jährige sie bei seinen zahlreichen Schulbesuchen erzählt, fesselt. 1990 wurde sie unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt.

Im Juni 1942 endete Perels Flucht vor den Nazis in einem Dorf in der Nähe von Minsk. Die Wehrmacht hatte ihn eingeholt. Doch statt den Jungen wie die anderen gefangenen Juden den Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes und der Waffen-SS und damit ihrem Tod zu übergeben, nahmen die Soldaten ihn auf – als den „Volksdeutschen“ Josef Perjell aus Litauen, als der er sich geistesgegenwärtig ausgab.

Als Hitlerjunge und Lehrling bei Volkswagen in Braunschweig

Damit begann die mehr als drei Jahre andauernde Wandlung vom Juden Sally zum Hitlerjungen Jupp. Sie ereignete sich in Braunschweig. „Ich war kaserniert im Bann 468 der Hitlerjugend. Gleichzeitig waren wir Lehrlinge im Volkswagen-Vorwerk. Das war eine schreckliche Zeit für mich. Ich stand jede Minute unter der Gefahr, entdeckt und hingerichtet zu werden“, erinnert sich Perel.

Zugleich begann er aber, seinen Kameraden immer ähnlicher zu werden und die Indoktrination der Nazis in sich aufzunehmen. Den Juden in sich musste er tief begraben, bis er seine Identität fast vergaß. Nur nachts seien die Erinnerungen an die Eltern und das Ghetto in Lódz wieder hochgekommen. „In mir ist ein Prozess abgelaufen, dass ich mich mit der Ideologie und der Rassenkunde identifiziert habe. Ich habe mich in einen echten Hitlerjungen verwandelt und begann zu vergessen, wer ich wirklich bin.“

Ein Prozess, der tiefe Spuren hinterlassen hat und noch immer nicht abgeschlossen ist. In gewisser Weise führe er bis heute ein Doppelleben, sagt Perel. Der Hitlerjunge sei ein Teil von ihm. „Manchmal reagiere ich ganz plötzlich auf irgendwelche äußeren Reize. Zum Beispiel wenn ich einen Dokumentarfilm mit Hakenkreuzfahnen sehe. Dann wird der Hitlerjunge in mir wach und will mitmarschieren.“

Anders als damals sei heute Sally, der Jude und Israeli dominant, doch es habe lange gedauert, bis er diese beiden Personen in sich vereinen konnte. „Die Rückkehr zu Sally dem Juden ist noch heute nicht ganz abgeschlossen. Solange ich den Hitlerjungen in mir trage und mit ihm im Dialog bin, ist dieser Prozess nicht abgeschlossen“, sagt Perel.

Nach dem Krieg allerdings musste Perel sich erst einmal ein neues Leben aufbauen. Da blieb wenig Zeit, sich auf das schmerzliche Ringen um die eigene Identität einzulassen. Er besuchte noch einmal seine „Heimatstadt“, wie er Peine noch immer nennt, und zog dann nach Israel. Dort kämpfte er im Unabhängigkeitskrieg von 1948, heiratete, wurde Vater von zwei Söhnen und Opa von drei Enkeln. Als Feinmechaniker setzte er anschließend um, was er als Lehrling bei Volkswagen gelernt hatte. Später eröffnete er zusammen mit seinem Bruder, der den Krieg ebenfalls überlebt hatte und nach Israel gezogen war, eine Reißverschluss-Fabrik.

Über sein früheres Leben sprach er 40 Jahre lang nicht. „1985 unterzog ich mich in Tel Aviv einer Herzoperation. Das war der Moment, in dem mir klarwurde, dass ich meine Geschichte nicht mit ins Grab nehmen wollte“, sagt Sally Perel. Fünf Jahre später erschien sein Buch, zunächst auf Französisch, dann auf Hebräisch und Deutsch.

Verrat am eigenen Volk oder Kampf ums Überleben?

Ein mutiger Schritt, denn in Israel gab es immer wieder heftige Debatten über das Verhalten von Juden, die mit dem Nazi-Regime kooperierten. Das betraf beispielsweise die Rolle der sogenannten Judenräte, die von den Nazis für Aufgaben der Selbstverwaltung in den jüdischen Ghettos eingesetzt wurden. Einige jüdische Polizisten, die den Ordnungsdienst in Ghettos übernommen hatten, wurden vor Gericht gestellt – zumeist aber freigesprochen.

„Natürlich werde auch ich gefragt, ob ich mein Verhalten nicht als Verrat an meinem Volk sehe“, erinnert sich Perel. Auch heute noch werde er das manchmal von Schülern gefragt. Die meisten Jugendlichen zeigten aber schnell Verständnis für sein Verhalten. „Ich habe mich ja nicht freiwillig gemeldet. Das Schicksal hat mich gegen meinen Willen in diese Naziwelt geschleudert und an die Reihen der HJ angegliedert. Um zu überleben, musste ich so handeln, musste ‚Heil Hitler‘ rufen, ihm die Treue schwören und Hakenkreuze tragen.“

Diese doppelte Perspektive, der des Opfers, aber auch desjenigen, der mit den Tätern mitmarschierte, macht Perels Geschichte so besonders. Und vielleicht auch so lehrreich. „Ich, der Jude Sally, kenne den Jupp in mir – ich kenne den Nazi“, schreibt Perel in seinem Buch. Und am Telefon erklärt er: „Ich kann mit meinen Erfahrungen an der politischen Aufklärungen von Jugendlichen mitwirken. Ich warne vor dem aufkeimenden Neonazismus. Ich sehe das als meine Pflicht als Überlebender.“ Erst das gebe seinem Leben, seinem Überleben, einen richtigen Sinn.

Da passt es, dass der Betriebsrat des VW-Werks in Braunschweig in seinem Namen einen Preis für Toleranz uns Respekt ins Leben gerufen hat. Perel bedeutet dies viel, er bezeichnet es als „Krönung all meiner Aufklärungsbemühungen.“ Dass Zeitzeugen wie er über ihre Erfahrungen sprechen und sie an Schüler weitergeben, hält Sally Perel für unerlässlich. „Wir werden immer weniger, aber wir produzieren ja in gewisser Weise neue Zeitzeugen, indem wir unsere Geschichten erzählen.“ Das sei wichtig, denn sonst blieben am Ende nur Dokumente und Aufzeichnungen.

Seine größte Sorge: dass mit dem Verschwinden der Zeugen der Holocaust in Zweifel gezogen werden könnte. „Um das zu verhindern, müssen wir die Wahrheit an die nächste Generation weitergeben“, sagt Perel.

Keine Rachegelüste, von Bitterkeit keine Spur

Das wird auch ein Thema sein, wenn er am 30. Mai seine Festrede im Braunschweiger Dom bei der Verleihung des Gemeinsam-Preises hält: „Ich werde über Menschlichkeit reden, für Frieden und gegen Rassismus. Ich möchte Jugendliche widerstandsfähig machen gegen die Gefahr des Rechtsradikalismus. Ich fühle mich als Botschafter des Friedens und der Aufklärung.“

Dabei ist Perel aber keinesfalls von Angst getrieben. Trotz der geäußerten Sorgen wirkt der 91-Jährige im Gespräch sehr positiv. Von Bitterkeit keine Spur. „Ich bin überzeugt: Das Böse kann man nur mit Gutem überwinden und den Hass nur mit Liebe. Das trage ich in mir. Ich bin nicht mit Rachegedanken erfüllt. Ich versuche, das Gute zu finden, das jeder Mensch in sich trägt.“

Deutschland bezeichnet Perel als sein Mutterland, Israel als Vaterland. An Peine, das er im Alter von zehn Jahren verlassen musste, hat er nur gute Erinnerungen, und das obwohl das Schuhgeschäft der Eltern wie viele andere von Juden geführte Geschäfte mit dem Spruch „Kauft nicht bei Juden!“ beschmiert wurde. „Als Kinder waren wir damals von den Ereignissen kaum betroffen und haben einfach weitergespielt“, erinnert sich Perel.

2015 hat er seine Heimatstadt zuletzt besucht. Sie habe sich kaum verändert: „Das Zentrum, auch die Schule mit den Räumen, in denen ich unterrichtet wurde, gibt es noch. Ich erkenne jeden Bürgerstein, auf dem ich mit Murmeln gespielt habe.“ Beim Besuch eines Gymnasiums habe er sogar einen alten Klassenkameraden getroffen. „Das war ein sehr bewegender Moment.“

Perels Erinnerungen an seine Zeit in Braunschweig sind weniger idyllisch. Doch um vor den Gefahren ideologischer Indoktrinierung zu warnen, ist die Stadt, in der er zum Nazi wurde, genau der richtige Ort.