Braunschweig. TU-Präsident Jürgen Hesselbach wagt einen Blick in die Zukunft und sagt auch, dass im Hochschulbereich verstärkt Sanierungen auf dem Programm stehen.

Zum wohl letzten Mal wagt Professor Jürgen Hesselbach als Präsident der Technischen Universität Braunschweig einen Blick in die Zukunft. Im April wird Anke Kaysser-Pyzalla höchstwahrscheinlich die Amtskette von ihm übernehmen. Im Interview mit Johannes Kaufmann wagt Hesselbach Prognosen zu den Nobelpreisen, zur Entwicklung von VW und zu Forschungsschwerpunkten in der Region.

Mit Ihrer Prognose, dass Emmanuelle Charpentier 2016 den Nobelpreis erhält, lagen Sie daneben. Wagen Sie einen neuen Versuch?

Ja! 2017 gibt es ganz sicher einen Nobelpreis für den Nachweis von Gravitationswellen. Spannend wird die Frage, ob der Preis womöglich auch nach Niedersachsen geht. Professor Karsten Danzmann, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Hannover, wäre ein Kandidat dafür.

Die Energiewende stellt Deutschland vor große Herausforderungen. Wird es da 2017 große Fortschritte geben?

„Behebt erst einmal die Baumängel, danach kann man über Exzellenz reden.“
„Behebt erst einmal die Baumängel, danach kann man über Exzellenz reden.“ © Jürgen Hesselbach, Präsident der TU Braunschweig

Eher nicht. Bei der Windkraft besteht weiterhin das Problem, dass die Energie dorthin gebracht werden muss, wo sie gebraucht wird. Und dieses Problem ist 2017 nicht gelöst. Auch müssen anders als bei Kohle und Gas bei den erneuerbaren Energien starke Schwankungen ausgeglichen werden, und die Speicher dafür wird es im nächsten Jahr noch nicht geben. Da müssen noch viele Fragen gelöst werden.

Die Bundesnetzagentur muss immer stärker eingreifen, Kraftwerke schnell hoch- und runterfahren, um Spannungsschwankungen bei den Erneuerbaren auszugleichen. Kommt es 2017 zu einem Blackout?

Das glaube ich nicht, aber es kann natürlich passieren. Aber das ist mir etwas zu spekulativ.

Anderes Thema: Welche Auswirkungen wird der Brexit auf die Wissenschaft haben?

Die Wissenschaftsbeziehungen zu Großbritannien werden dadurch behindert. Es gibt viele europäische Programme, Studentenaustausch, Wissenschaftleraustausch. All das wird schwieriger werden. Und natürlich fällt für die Briten der große Topf der EU-Fördermittel erst einmal weg.

Es trifft die britischen Wissenschaftler also stärker?

Ja, das sowieso. Auch für uns wird die Zusammenarbeit mit Briten schwieriger werden, aber wir kooperieren ja auch mit China, und die sind auch nicht in der EU.

Pisa-Studie, schwache Mathe-Leistungen in der Grundschule, Begabtenförderung. Bildungsthemen haben zuletzt viele Schlagzeilen gemacht. Was glauben Sie wird die Bildungspolitik 2017 bestimmen?

In Niedersachsen sehe ich Probleme in der Schulpolitik, die auch Konsequenzen für uns haben: Die Eingangsvoraussetzungen bei Studenten werden schlechter, da gebe ich dem Philologenverband recht. Die mathematischen Defizite in der Grundschule setzen sich fort, das merken wir als Technische Universität besonders deutlich. Ich fürchte, dass das Senken der Ansprüche dazu führen wird, dass wir am Ende höhere Quoten beim Studienabbruch haben werden. Denn wir sind nicht bereit, unsere Anforderungen ebenfalls abzusenken.

Was müsste passieren? Was sagen Sie zur Begabtenförderung?

Das ist eine gute Sache, wenn dabei nicht vernachlässigt wird, dass es auch weniger Begabte gibt. Wir müssen alle jungen Menschen ihren Möglichkeiten entsprechend fördern.

VW startet eine Offensive bei der Elektromobilität. Welche Auswirkungen sehen Sie für den Konzern und für die TU Braunschweig voraus?

Die Entscheidung von Volkswagen ist konsequent. Es ist auch konsequent, die Technologie selbst weiterzuentwickeln, und es freut mich, dass das vor allem unsere Region betrifft. Bei Antrieben und Batterien sind wir stark aufgestellt. Für die TU ist das toll. Wir haben unsere Batterieforschung mit einer relativ kleinen Investition von acht Millionen Euro gestartet und bereits zehn Millionen eingeworben. Mittlerweile hat sich die Battery-Lab-Factory unter Professor Arno Kwade so gut etabliert, dass wir vor allem in der Fertigungstechnik eine führende Position in Deutschland haben. Das ist für die Werke in der Region natürlich spannend, und ich bin sicher, dass 2017 auf diesem Gebiet die gemeinsame Forschung mit Industriepartnern ausgeweitet wird. In der Elektrochemie sind aber die Münsteraner unter Professor Martin Winter, der kürzlich den Forschungspreis der Stadt Braunschweig bekommen hat, führend.

Wirkt sich das auf die Institutsstruktur der TU aus? E-Antriebe statt Verbrennungsmotoren?

Nein, ganz sicher nicht. Ich muss VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh recht geben: Auch das Ziel von 25 Prozent E-Mobilität im Jahr 2025 bedeutet, dass 75 Prozent der Autos noch immer mit Verbrennungsmotoren fahren. Auch da muss die Entwicklung weitergehen. Das ist das Brot- und Buttergeschäft. Es geht um Akzentverschiebungen.

Ein weiterer Aspekt des Zukunftspakts von VW sieht die Digitalisierung und einen Ausbau der Informationstechnik vor. Bedeutet das einen Schub für die Informatik an der TU?

Auf jeden Fall muss die Informationstechnik sich der Mobilität noch stärker widmen als bisher. Das kann man den Kollegen aber nur raten, zwingen kann man sie zum Glück nicht. Außerdem hängt die Reaktionszeit von Hochschulen vor allem von Neuberufungen von Professoren ab. Das geht also nicht so schnell. Meine Prognose lautet aber, dass die TU 2017 die Digitalisierung in der Mobilität stärker aufgreifen wird.

Die Technische Chemie musste gerade wegen Baumängeln geschlossen werden. Bricht 2017 das erste TU-Gebäude in sich zusammen?

Nein. Mechanisch sind die Gebäude in Ordnung. Aber das Problem ist trotzdem gravierend: Wir haben zwar viele tolle Neubauten, aber mehr als die Hälfte der TU-Gebäude sind aus den 1960er und 70er Jahren. Die brechen nicht zusammen. Aber die Bewertung der Gutachter hinsichtlich des Brandschutzes hat sich geändert.

Wird denn nach all den Neubauten 2017 ein Jahr, in dem die TU sich stärker um den Bestand kümmert?

Ja. Wir haben uns natürlich auch schon in der Vergangenheit darum gekümmert, nur unser Kümmern allein reicht eben nicht. Jetzt haben wir aber für die Physik, die Pharmazie und die Technische Chemie im Haushaltsplan 70 Millionen Euro vorgesehen. Das könnte auch noch mehr werden. Die TU wird sich mit bis zu 30 Millionen aus ihren Rücklagen daran beteiligen. Im Januar wird entschieden, welche Neubauten die TU in Angriff nimmt. Ich orakele: 2017 wird die TU den Neubau einer technischen und physikalischen Chemie auf dem Gelände des Zentrums für Systembiologie (Brics) am Rebenring planen. Ich prognostiziere, dass es keine Renovierung des alten Gebäudes geben wird, weil das nicht wirtschaftlich wäre.

Wird sich das Land bei Sanierungen jetzt stärker engagieren?

Ich würde es mir wünschen, aber das glaube ich nicht. Ich habe als Vorsitzender der Landeshochschulkonferenz immer darauf hingewiesen, dass das eines der größten Probleme der Hochschulen ist. Das betrifft keinesfalls nur die TU Braunschweig. Auch an der Universität Osnabrück musste ein zentrales Gebäude aus Brandschutzgründen geschlossen werden. Dieses Problem müsste im Zusammenwirkgen von Bund und Ländern gelöst werden. Es braucht ein bundesweites Sanierungsprogramm. Meines Erachtens wäre das wichtiger als die Exzellenz-Initiative. Behebt erst einmal die Baumängel, danach kann man über Exzellenz reden.

Exzellenz führt uns zu den Forschungszentren. Fahren diese 2017 die von Ihnen geforderte „Forschungsrendite“ ein? Welche großen Entwicklungen sehen Sie da?

Wir waren im Spitzenforschungswettbewerb des Landes erfolgreich mit den Themen Energiewende in der Luftfahrt und Nanometrologie. Diese werden wir auch in der Exzellenzinitiative einbringen. Ich bin überzeugt, dass das Megathemen werden. In der Pharmaverfahrenstechnik und Informationstechnik wird es neue Projekte geben. Vor allem aber die Batterieforschung läuft und wird für die ganze Region immer wichtiger.

Die Zentren starten 2017 also durch?

Die Luftfahrtforschung hat einen DFG-Sonderforschungsbereich eingeworben und ist damit schon durchgestartet. Das gilt auch für die Batterieforschung und eigentlich auch für das Brics. Auch das Niedersächsische Forschungszentrum Fahrzeugtechnik (NFF) ist gut unterwegs. Da würde ich mir lediglich noch etwas mehr Grundlagenforschung wünschen.

An US-Hochschulen wird zurzeit über „safe spaces“ und „microaggressions“ diskutiert. Dabei geht es um den Anspruch an Universitäten, ein Schutzraum für Studenten zu sein, in dem sie von harten Auseinandersetzungen verschont bleiben. Glauben Sie, dass diese Diskussion nach Deutschland kommt?

Dafür gibt es erste Anzeichen. Das ist eine Entwicklung, die mich wirklich beunruhigt – die übertriebene Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten. Ein Beispiel ist „Münkler-Watch“, die Beobachtung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, dessen Vorlesungen über die sozialen Medien verfolgt und heftig kommentiert werden. Und wenn er irgendetwas Unkorrektes von sich gibt, wird er gleich als Sexist, Rassist oder Ähnliches beschimpft. Letztlich sollen auf diese Weise politisch missliebige Positionen diffamiert werden. Und das geht über die neuen Medien sehr einfach.

In den USA und Großbritannien müssen Dozenten sehr vorsichtig sein, was sie ihren Studenten zumuten. Für mich ist das ein Rückschritt. Das ist wie im Mittelalter, wo Dinge nicht gesagt werden durften, die nicht in das herrschende Weltbild passten. Das ist eine entsetzliche Entwicklung. Zum Glück ist es bei uns aber noch nicht so schlimm, und ich glaube auch nicht, dass das hier ähnliche Ausmaße annehmen könnte.

Weil es Widerstand dagegen gibt?

Auch das, ja. Ich vertrete das Motto unserer Universität: Nec aspera terrent – auch Widrigkeiten schrecken uns nicht. Wir wollen hier doch Menschen ausbilden, die etwas aushalten und sich einer kritischen Diskussion stellen, die auch mit dem Unangenehmen konfrontiert werden. Universität muss auch Konfrontation bedeuten. Es gibt den Trend, alles über die politische Korrektheit zu glätten. Aber das ist nicht akademisch. Da darf es durchaus auch mal rau zugehen.

2017 feiert Braunschweig zehn Jahre Stadt der Wissenschaft. Wird Braunschweig auch außerhalb der Region stärker als Forschungsstandort wahrgenommen werden?

Dass wir hier Top-Einrichtungen haben, wird bereits wahrgenommen. Das sehen wir daran, dass wir eine Menge Studenten haben, die nicht aus Niedersachsen kommen. In der Kraftfahrzeugtechnik kommt jeder zweite Student aus dem Ausland. Insgesamt wird die Stadt aber auch durch tolle kulturelle Einrichtungen wie das Herzog-Anton-Ulrich-Museum bekannter werden. Das ist ein Juwel! Die „Zeit“ hat das Museum als „Louvre des Nordens“ bezeichnet. Ich durfte da während der Renovierung mal in den Keller und bin schier aus den Latschen gekippt, was da alles lagert.

Gibt es 2017 wieder ein Orakel mit Professor Jürgen Hesselbach?

Das will ich nicht ausschließen, aber es wäre sicher eine gute Idee, stattdessen die dann amtierende Präsidentin der TU in die Zukunft blicken zu lassen. Die Perspektive einer Neu-Braunschweigerin ist sicher interessanter als meine. Und ich habe viele schöne Dinge vor, die mich dafür entschädigen werden, dass ich künftig weniger Interviews mit Ihrer Zeitung führen werde.