Braunschweig. Ein Gespräch mit dem regionalen Reservisten-Chef über die Mängel der Bundeswehr und die Landesverteidigung. Und was ist mit unserem Pazifismus?

Michael Gandt, geboren 1970, aufgewachsen in Bad Wildungen, war von 1990 bis 1998 Bundeswehr-Offizier, Waffengattung: Panzergrenadier. Nach seiner Bundeswehr-Zeit studierte er Politik und Geschichte in Frankfurt/Main. Gandt ist Geschäftsführer des Bezirksverbands des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Zugleich ist er, der Oberstleutnant der Reserve, seit drei Jahren Vorsitzender der hiesigen Kreisgruppe der Reservistenkameradschaften – also von insgesamt 620 Reservisten, die in Braunschweig, Wolfenbüttel, Vechelde, Schöppenstedt, Salzgitter und Hornburg-Schladen organisiert sind.

In Gandts lichtem Volksbund-Büro am Braunschweiger Bankplatz liegt eine erkaltete Pfeife auf dem Schreibtisch, während vom Krieg, von der Bundeswehr und von der Rolle der Reservisten die Rede ist.

Michael Gandt ist Oberstleutnant der Reserve. Im Hintergrund ist eine Urkunde zu sehen, die er sich bei der Oderflut 1997 verdient hat.
Michael Gandt ist Oberstleutnant der Reserve. Im Hintergrund ist eine Urkunde zu sehen, die er sich bei der Oderflut 1997 verdient hat. © Likus, Harald

Seit dem russischen Überfall der Ukraine ist auf neue Weise von Landesverteidigung die Rede. Dabei geht es zum einen darum, die bekanntlich „blanke“ Bundeswehr zu ertüchtigen. Mit sehr viel Geld. Zum anderen heißt es, für die Landesverteidigung seien natürlich die – viele Jahre lang eigentlich kaum beachteten – Reservisten vonnöten. Wie erleben Sie als eingefleischter Reservist die Wende? Und, mit der Bitte um eine ehrliche Antwort: Empfinden Sie da auch ein kleines bisschen Genugtuung?

Als Kind des Kalten Krieges war ich immer Verfechter der Abschreckung. Ich darf daran erinnern: Wir hatten in den 80er Jahren eine große Bundeswehr, deren Aufgabe es war, die Warschauer-Pakt-Staaten davon abzuhalten, bei uns einzumarschieren. Unsere Doktrin nannte sich „Flexible Response“ und hat sich als passend und vor allem wirksam erwiesen. Dem potenziellen Feind wurde ganz klar signalisiert, dass er für einen Angriff einen hohen Preis zu bezahlen hätte. Ich bin überzeugt davon, dass ihn genau das von Attacken abgehalten hat. Und ich glaube auch, dass wir dieses Konzept nun wieder mehr beherzigen sollten, zum Beispiel mit Blick auf die mögliche Verteidigung der baltischen Staaten durch die Nato. Aber Sie haben in Ihrer Frage das Wort „blank“ erwähnt, diesen Satz des Inspekteur des Heeres, Alfons Mais. Ich kann mich dieser bitteren Analyse nur anschließen. Besonders bedauerlich finde ich einen solchen Befund im Jahr 2022, obwohl wir doch im Jahr 2014 eigentlich beschlossen haben, wieder mehr Wert auf Landes- und Bündnisverteidigung zu legen. Das war ja kein Zufall, nach der Annexion der Krim war doch klar, dass die Lage sich verändert hat. Waren das nur Lippenbekenntnisse? Sowohl personell als auch materiell ist die Ausstattung nach wie vor nicht gut. In den acht Jahren hat sich viel zu wenig getan. Das alles finde ich sehr bedauerlich. Das muss sich aus meiner Sicht ändern, wird aber leider gar nicht so schnell gehen können, trotz der 100 Milliarden. Und nein, Genugtuung empfinde ich darüber überhaupt nicht.

Sie sprechen Veränderungen an. Auch für die Reservisten?

Seit 2011 haben wir keine Wehrpflicht mehr. Natürlich hat sich das auf die Reservisten ausgewirkt, wir sind weniger geworden – und älter. Wir haben weit und breit keinen Bundeswehrstandort mehr, wir sind in jeder Hinsicht weiter weg von der aktiven Truppe. Unsere Reservisten müssen nach Celle fahren, um überhaupt schießen zu können. Wohlgemerkt: In ihrer Freizeit tun sie das, unbezahlt, aus Idealismus. Ja, auch was die Reserve angeht, sollte es nicht so bleiben, wie es ist. Ich hoffe, dass die Reservisten von der Gesellschaft wie von der Bundeswehr künftig ernster genommen werden und eine größere Rolle spielen.

Wie ist aktuell die Stimmung unter den Reservisten?

Selbstverständlich ist der Krieg in der Ukraine bei uns das beherrschende Thema. Der Angriff wird, wie ich das wahrnehme, einhellig verurteilt. Aber unser großes Thema ist eben auch die Frage, auf die wir eben zu sprechen kamen: Wie einsatzfähig ist die Bundeswehr?

Was meinen Sie, brauchen wir wieder die Wehrpflicht?

Ich war immer ein Anhänger der Wehrpflicht. Ich denke, die Bürger eines Landes sind dessen natürliche Verteidiger. Außerdem hat sich herausgestellt, dass die Bundeswehr seit Jahren einige Schwierigkeiten hat, geeignetes Personal zu finden. Eine Freiwilligen- oder Berufsarmee ist erstens teurer, zweitens nicht unbedingt schlagkräftiger und außerdem anfälliger für Extremismus-Probleme. Die Armee sollte ein Spiegel der Gesellschaft sein. Ich finde den Gedanken einer Dienstpflicht interessant. So könnten sich junge Menschen entscheiden, ob sie den Dienst an der Waffe oder einen Dienst im Gesundheitswesen vorziehen. So oder so muss wieder deutlich werden: Kernaufgabe der Bundeswehr ist die Landes und Bündnisverteidigung und nicht die Unterstützung bei zivilen Einsätzen im Inland, bei Hochwasser oder Corona-Pandemie. Eine Armee muss kämpfen können. Sie sollte keine Form des „bewaffneten THW“ darstellen.

Sie sagten eben bewusst „Menschen“, ja?

Ja, wenn ich von der Dienstpflicht spreche, wären aus meiner Sicht Frauen und Männer gemeint. Wenn eine reine Wehrpflicht wiedereingeführt wird, sollten nur junge Männer gemeint sein. Das ist meine persönliche Meinung, andere mögen das anders sehen…

In der aktuellen Kriegsberichterstattung ist viel von Panzerfäusten und „NVA-Haubitzen“ die Rede. Man reibt sich die Augen, oder?

Ja, wir lernen jetzt wieder, dass die Abschreckung mit konventionellen Waffen unbedingt dazugehört. Wie wichtig die sind, sehen wir jeden Tag in der Ukraine. Und wenn wir sagen, dass wir neu über Landesverteidigung und also auch Bündnisverteidigung nachdenken müssen, dann sollten wir uns stets vor Augen halten, dass die Ostgrenze der Nato nicht mehr durch Deutschland verläuft, sondern dass die baltischen Staaten, dass Polen, Ungarn und Rumänien auch gemeint sind. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Nato gut daran tut, sich aus dem Krieg derzeit herauszuhalten. Eine Flugverbotszone zum Beispiel hielte ich für brandgefährlich.

Meine Formulierung mit dem „Augen reiben“ hat auch mit dem politischen Umschwung zu tun. Die Bundeswehr war den meisten eher egal. Auch gibt eine starke pazifistische Kultur in diesem Land. Ist die aus Ihrer Sicht obsolet?

Ja, ich denke, da muss und wird sich etwas ändern. Pazifismus ist eine edle und sympathische Haltung, wenn man ihn sich leisten kann. Ich halte Frieden ohne Abschreckung auf Dauer für eine Illusion.

Gibt es also ein neues Wettrüsten?

Das würde ich gar nicht so nennen. Wenn wir an Russland denken, stellt sich ja auch die Frage, wie die das bezahlen sollten. Nein, ich denke, dass wir die Pflicht haben, mit unserer Bundeswehr überhaupt erst einmal wieder auf Augenhöhe mit anderen Armeen zu gelangen.

Das Stichwort: Die Reservisten

Mehr über die Reservisten in unserem Bundesland ist auf www.reserveniedersachsen.de zu erfahren. In ganz Deutschland hat der Verband der Reservisten etwa 110.000 Mitglieder, sei es als Reservisten (ordentliche Mitglieder), als Soldaten (außerordentliche Mitglieder) oder interessierte Bürger ohne Armeehintergrund (Fördermitglieder).

Laut Verbands-Chef Patrick Sensburg gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass Reservisten der Bundeswehr dem Aufruf der ukrainischen Regierung gefolgt sind, gegen den russischen Einmarsch zu kämpfen. „Ich kann jedem Reservisten von diesem Schritt nur abraten. Es drohen disziplinarrechtliche Maßnahmen“, sagte Sensburg der „NOZ“.

Zur Frage, wer wann eingezogen werden kann, lesen Sie mehr an dieser Stelle.