Braunschweig. Die Zahl der Spender bleibt in Deutschland auf einem sehr niedrigen Niveau. Minister Gröhe wirbt um Vertrauen.

Eine Leserin, die sich auf den Facebook-Seiten unserer Zeitung Vanessa Bra nennt, sagt:

Der Ausweis tut nicht weh und die Entnahme auch nicht. Es kann schneller gehen, als man gucken kann.

Zu dem Thema recherchierten Dirk Breyvogel, Philipp Neumann und unsere Agenturen

Das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, das die Leserin beschreibt, spiegelt sich nicht in den Zahlen wider, die Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) gestern auf dem Jahreskongress der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) vorstellte. Unzufrieden zeigte sich der Minister nicht nur mit der gleichbleibend geringen Zahl an Organspenden und Spendern, sondern auch damit, dass innerhalb der Bevölkerung offensichtlich weiter großes Misstrauen gegenüber der deutschen Transplantationsmedizin herrscht. Ein Misstrauen, das in Apathie münden würde, wenn nicht alle gemeinsam gegensteuern würden. Politik. Medizin, Gesellschaft. Wie anders soll man Gröhes Aussagen im Vorfeld des Kongresses verstehen? „Fast drei Viertel, nämlich 69 Prozent der Menschen in Deutschland sagen, dass sie zu einer Organspende grundsätzlich bereit sind. Trotzdem besitzt nur jeder Dritte, 32 Prozent, einen Organspendeausweis“, erklärt er. Und so wählte der Minister drastische Worte, um seinen Unmut über den Ist-Zustand in der deutschen Organspendepraxis Luft zu machen. „Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Organ gefunden wird“, sagte Gröhe. 10 000 Schwerstkranke würden auf eine Verbesserung der Situation angewiesen sein.

Dramatischer Rückgang an Organspenden

In der Tat: Die Zahlen sind seit Jahren alarmierend. Auch wenn die postmortalen Spenden bundesweit minimal von 864 auf 877 gestiegen sind, ist man vom Spendenniveau der Zeit vor dem großen Transplantationsskandal weit entfernt. So waren es 2010 noch fast 1300 Organspenden, 2011 lagen sie bei 1200, 2012 bei 1046. Während die juristische Aufarbeitung um manipulierte Spenderlisten fortschritt, nahm die Bereitschaft Organe zu spenden weiter ab. Die kriminelle Praxis einiger weniger Ärzte in vier deutschen Transplantationszentren – unter anderem in Göttingen – die ihre Patienten kränker erschienen ließen, als sie tatsächlich waren, um in der Liste der potenziellen Empfänger nach oben zu klettern, verfehlte nicht die Wirkung.

Die Braunschweiger Bundestagsabgeordnete Carola Reimann, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, hat sich mit dem Thema Organspende in Deutschland über Jahre beschäftigt. Von 2005 bis 2009 war sie Sprecherin der Fraktionsarbeitsgruppe „Gesundheit“. Von November 2009 bis Dezember 2013 war sie Vorsitzende des zuständigen Bundestagsausschusses.

Sie sagt: Es herrsche nach den Skandalen weiter ein tiefes Misstrauen in der Bevölkerung. „In Deutschland wird das Thema Tod nicht stärker verdrängt als in den anderen Ländern. Aber durch die Vorfälle in der Transplantationsmedizin wurde hier viel Vertrauen verspielt. Negative Nachrichten bleiben viel länger im Gedächtnis als positive. Deshalb helfen positive Beispiele“, sagt Reimann und nennt das Beispiel Frank-Walter Steinmeiers (SPD). Der Bundesaußenminister hatte im August 2010 seiner erkrankten Frau eine Niere gespendet.

Die SPD-Politikerin hofft mit Blick auf die immer geringere werdende Spendenbereitschaft auf eine Gesetzesänderung. „Ich bin ein Freund der Widerspruchsregelung. Ich sehe darin die einzige Möglichkeit, den negativen Trend umzukehren. Allerdings halte ich das zurzeit im Bundestag leider für nicht mehrheitsfähig.“ In Spanien und zum Beispiel in den Niederlanden ist man automatisch Spender. Man muss sich also vor seinem Tod mit dem Thema befassen und widersprechen, wenn man das nicht möchte. „Es gibt auch dort das Phänomen, dass sich Menschen mit diesen Fragen nicht befassen wollen. Aber dann sind sie potenzielle Spender und helfen möglicherweise anderen, weiter zu leben.“

Gröhe argumentierte gestern dagegen, der Bundestag habe einmütig für die sogenannte Entscheidungslösung gestimmt. „Ich bin von dieser Regelung überzeugt, denn die Entscheidung für die Organspende ist eine ganz persönliche. Sie sollte immer eine eigene freiwillige, informierte und vor allem eine bewusst getroffene Entscheidung sein.“

Um die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen eine Organspende abzubauen, soll auch ein zentrales Transplantationsregister mehr Transparenz bringen. Gesetzliche sowie private Krankenkassen müssen nun ihre Versicherten ab 16 Jahren alle zwei Jahre über Organspende und Organspendeausweis informieren.

Reimann betont, dass sie auch die Argumente derjenigen verstehen kann, die sich gegen eine postmortale Spende entscheiden. „Mir ist jede Entscheidung lieber als keine. Es gibt nichts Schlimmeres, als die Angehörigen mit diesen Fragen zurückzulassen.“ Die Bereitschaft Organe zu spenden steige immer dann, wenn Menschen persönlich betroffen seien. „Das ist die Erfahrung, die auch ich persönlich gemacht habe.“

Ihr Parteikollege Karl Lauterbach fordert unterdessen, den Krankenhäusern mehr Geld für Organspenden zur Verfügung zu stellen. „Aufwand und Kosten der Organspende werden unterschätzt“, sagte Lauterbach unserer Zeitung. Man dürfe nicht am falschen Ende sparen. „Gelungene Transplantationen sparen sehr viel Geld und ersparen langes Leid“, begründete Lauterbach den Vorstoß.

DSO: Ärzte stärker für das Thema sensibilisieren

Nach Ansicht der DSO müssen auch Ärzte in Krankenhäuser stärker für das Thema sensibilisiert werden. Dass manche von ihnen bei medizinischen Notfällen nicht an eine mögliche Organspende eines Kranken dächten, liege auch an der „enormen Leistungsverdichtung“ in Kliniken, sagte der Medizinische Vorstand der DSO, Axel Rahmel, auf dem Kongress in Frankfurt. „Das ist nicht böse Absicht.“ Die Zahl der Krankenhäuser sei geschrumpft, gleichzeitig aber die Zahl der Patienten auf Intensivstationen gestiegen.

Der Vorsitzende des DSO-Stiftungsrates, Björn Nashan, sagte, gesetzlichen Krankenkassen müsse klargemacht werden, dass ein System nicht totgespart werden dürfe. „Alle sind unter Kostendruck und keiner denkt mehr an den Patienten.“