Göttingen. Die 37-jährige Ute Neumann berichtet, wie sie über viele Jahre als Kind von einem Familienmitglied vergewaltigt wurde.

„Jedes dritte Mädchen in Deutschland erlebt sexualisierte Gewalt“: Das hat die Leiterin des Göttinger Frauennotrufs, Maren Kolshorn, gesagt. Zu Beginn einer Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Feministischen Frauengruppe Göttingen in der Universität Göttingen nannte sie Zahlen aus Göttingen. Anschließend berichtete Ute Neumann darüber, dass sie als Kind jahrelang von einem Verwandten missbraucht wurde.

Es ist noch immer ein T abu-Thema. Und das, obwohl Kolshorns Angaben zufolge die sexuelle Gewalt die „größte Gesundheitsgefährdung“ für Frauen und Mädchen in Deutschland ist. „In jeder Schulklasse sitzen betroffene Kinder“, sagte sie. Mädchen, aber auch Jungen. Oft allerdings wüssten die Lehrer das nicht. Man müsse viel genauer hinsehen.

Das forderte auch Ute Neumann. Die heute 37-jährige DGB-Mitarbeiterin wurde als Kind jahrelang missbraucht. Von ihrem Cousin. „Ich habe überlebt”, so die Frau, die in Göttingen studiert und gearbeitet hat. Seit 2008 arbeitet sie das, was ihr als Kind angetan wurde, nun auf. In ihrem schonungslosen Vortrag gab es Momente, in denen ihr die Stimme versagte.

Martyrium begann im Alter von fünf Jahren

Im Alter von fünf Jahren begann ihr Martyrium. „Der Täter war und ist zehn Jahre älter”, so Neumann. Der Mann, der sie wieder und wieder missbrauchte, lebte in einer anderen Stadt. Im Urlaub und zu Familienfeiern verging er sich an seiner kleinen Cousine. Die Wiese, das Hotelzimmer: „Orte des Schreckens” für Neumann. Mit dem Satz „Ute, komm mal mit, ich will dir etwas zeigen“, habe es begonnen. Ein aufgezwungener Zungenkuss, dann das Unglaubwürdigmachen des Opfers vor den Verwandten. Macht ausüben. Am Tag ihrer Einschulung dann die erste Penetration. „Danach hat er mir alles, aber auch alles angetan“, sagte die 37-Jährige.

Mindestens vier Jahre lang ging das so. Wie lange genau, weiß Neumann nicht. „Ich kann mich an das Ende bis heute nicht erinnern“, sagte sie. Die Familie glaubte nicht ihr, sondern dem Täter. Nur ihr Bruder hielt zu ihr. Sie verdrängte das Geschehene, bis sie nach vielen Jahren in einer Bar angebaggert wurde und einen Kuss bekam. Dann brach die Erinnerung auf. Die Folge: Rückzug, Depressionen, Suizid-Absichten. Freunde in Göttingen kümmerten sich, schleppten sie zum Frauen-Notruf. „Ohne diese Freunde hätte ich es nicht geschafft“, sagte Neumann.

Opfer ist noch immer in Therapie

Noch immer ist Neumann in Therapie. Es braucht Zeit zu verstehen, dass nicht das Opfer, sondern der Täter die Schuld trägt. Das Einreden von Schuldgefühlen, das sei eine Strategie der Täter. „Die Täter wissen genau, was sie tun“, sagte Neumann. Sie sind häufig vermeintlich nette Menschen und beliebt in der Familie. Noch heute ist der Täter geschätztes Familienmitglied und Vater von drei Kindern. „Hätte nur einer in meiner Familie damals reagiert, hätte der Missbrauch nicht über Jahre angedauert.“ Später bricht Neumann mit ihrer Familie.

Verurteilt wird der Täter nie, bis Neumann zur Polizei geht, sind bereits zu viele Jahre vergangen. Der Umgang des Umfeldes mit den Vergewaltigungen habe eine „enorme Bedeutung”. Auch Kolshorn sagte: „Die Täter sind meistens ganz normale Männer, es geht ihnen um Kontrolle und um Macht, nicht primär um Sex“. Ziel sei die Abwertung von Frauen und die Erhaltung eines „aggressiv-dominanten Männerbildes“.

Gegen das „unfassbar Widerliche“ setzte Neumann Schutzmechanismen ein. Abstellen, verdrängen, sich kleinmachen. Nach zwölf Jahren Therapie weiß die DGB-Mitarbeiterin: „Wir sind nicht schuld“. Immer noch werde den Opfern zu oft nicht geglaubt, sie würden nicht ernst genommen. „Das redest du dir ein, das hast du falsch verstanden, du hast dich doch rangeworfen“. Sätze wie diese zeigen die anhaltende Diskriminierung. Egal wie sich eine Frau kleidet: Nein heiße Nein. „Die Täter-Strategien müssen zum Thema werden“, forderte Neumann.