Walkenried. Viva Voce eröffnet die 35. Spielzeit der Kreuzgangkonzerte – und bot einen ganzen musikalischen Kosmos an einem einzigen Abend.

Diese Jungs trauen sich was. In ihrem aktuellen Programm „Ein Stück des Weges“ vereinen Viva Voce U2, Metallica und die Väter der Kirchenmusik – und das klappt sogar. Deshalb gab es bei der Spielzeiteröffnung im Kloster Walkenried am Samstagabend jede Menge Applaus.

Die ersten leisen Töne kommen gar nicht von vorn. Das Quintett hat sich im Rücken des Publikums aufgebaut, singt Gregorianik und macht dann eine Prozession durch die Sitzreihen zur Bühne. Das ist zwar nicht neu, sorgt aber für einen ersten Aha-Effekt. Aber aller Besinnlichkeit und Weltvergessenheit überzeugt der Vortrag mit einer kraftvollen Darbietung.

Ohne Ankündigung gibt es einen Sprung um 800 Jahre nach vorn. Die Gregorianik geht ansatzlos über in den U2-Klassiker „I still haven‘t found what I’m looking for“. Dieser Trick wird den ganzen Abend beherrschen. Viva Voce kreieren Kombinationen, die man auf den ersten Blick befremdlich findet, und der Vortrag macht dann deutlich, dass es Parallelen und sogar Gemeinsamkeiten gibt. Hier ist es die Suche nach dem Verlässlichen. Das macht „Ein Stück des Weges“ deutlich.

Gospel auf dem Programm

Dann geht der Parforceritt durch die Genres weiter. Mit „Gentle Sheppard“ steht ein Gospel auf dem Programm. Es gibt kein Schubbi-Doh-Bop und Körper, die sich ekstatisch wiegen. Es gibt Besinnung unplugged. Die fünf Sänger legen die Mikrofone beiseite und vertrauen ganz auf die Kraft ihrer Stimmen. Die erklimmen die höchsten Höhen im gotischen Gemäuer, um von dort auf das Publikum zu perlen. Dafür wurde einst der Kreuzgang gebaut und Viva Voce weiß das mehrfach zu nutzen. Sie erwecken das Gemäuer zum Klang-Raum, der zum Teil der Inszenierung wird.

Nach dem Ausflug in die Einsamkeit des Daseins und in die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz kommt wieder ein Bruch. Das macht den Reiz des Programms aus. Gerade hat man sich auf ein Thema eingelassen, macht das Quintett einen Quantensprung. So arbeitet es in einem einzigen Konzert einen ganzen musikalischen Kosmos ab.

Dann ist Jörg Schwartzmanns mit seinem Solo dran und das beinhaltet mehr als Beatboxen. Eine komplette Schlagzeug-Batterie lässt er allein mit Mund und Kehlkopf vor dem geistigen Auge des Publikums erklingen. Beim letzten Kreuzgang-Gastspiel im Herbst 2013 hat er das Kunststück schon vollbracht. Aber offensichtlich hat er sein virtuelles Schlagwerk noch einmal ausgebaut.

Die Einführung übernimmt Heiko Benjes mit Augenzwinkern und mit satirischen Vokabeln aus der Abteilung „Pseudowissenschaftlich“. Auch das ist ein Teil des Viva-Voce-Konzepts: Im Spiel mit dem Publikum erfüllt jeder eine Rolle. Heiko Benjes ist der Satiriker, Schwartzmanns der Mystiker, David Lugert ist der Sunnyboy und Charmeur und Basti Hupfer macht den Kaspar. Nur Matthias Hofmann muss als neues Gang-Mitglied noch seine Rolle finden.

Dann kommt der Moment, in dem der ganze Kreuzgang swingt. Viva Voce überrascht mit Stevie Wonders „For once in my life“, und sie schaffen es, die ganze Leichtigkeit des klassischen Funk in das alte Gemäuer zu schütten. Das Publikum schnippt mit den Fingern, wippt mit den Füßen und einige wagen sogar, mitzusingen.

Schwupps – nächster Bruch

Schwupps, schon kommt der nächste Bruch. Zu „Die Pfade des Herrn“ werden die Mikrofone ad acta gelegt, Psalm 25 verlangt nach gregorianischem Ambiente. Jörg Schwartzmanns platziert sich im Rücken des Publikums, die anderen bleiben auf der Bühne. Der Solist stößt einen Dialog mit dem Chor an, und der Wechselgesang lässt musikalische Ornamente durch den hohen Raum ziselieren. Das verlangt Perfektion und Harmonie auf höchstem Niveau.

Dann führt der Fahrstuhl wieder in die Abteilung „Soul-Klassiker“. Marvin Gayes Song „Ain’t no mountain high enough“ ist eine Rhythmus-Explosion und Viva Voce schaffen es, den treibenden Beat ganz ohne Musik umzusetzen. Jetzt sind die Grenzen der Genres überschritten. Der Saisonauftakt der ehrwürdigen Kreuzgangkonzerte wird zum Popkonzert. Egal. Das Thema ist eine Liebe, die alle Widerstände überwindet. Das ist auch eine Form, den Herren zu lobpreisen und damit ist dieser Song auch in einem ehemaligen Kloster richtig platziert.

Das Publikum zeigt sich unbeeindruckt von solch theologischen Überlegungen. Es hat seinen Spaß. Als man meint, das sei nicht mehr zu steigern, setzen Viva Voce noch eins drauf. Wohl zum ersten Mal in der 35-jährigen Geschichte der Kreuzgangkonzerte erklingt hier ein Song der Schwermetaller Metallica. Das Licht wird heruntergefahren und Jörg Schwartzmanns präsentiert das massenkompatible „Nothing else matters“ gewissermaßen im Dark-Room-Modus. Das ist ein Gänsehaut-Moment, und die Überraschung der Zuhörer löst sich anschließend in stürmischem Beifall und Jubelrufen auf.

Eine Zugabe

Mit „Ich bin a Zimmerer“ zu Dions „The Wanderer“ darf Basti Hupfer noch mal sein komediantisches Talent unter Beweis stellen, bevor mit Leonard Cohens „Hallelujah“ und „You raise me up“ die Stimmung wieder in Richtung Besinnung gelenkt wird. Natürlich gibt es noch eine Zugabe. Beim Beatles-Medley ist für jeden Sänger ein Solo drin, nur nicht für Hupfer. Doch dessen Empörung ist nur gespielt und Teil der Show.

Mit Viva Voce die Grenzen der Genres zu überschreiten, ist vor allem spaßbetont und bestimmt nicht akademisch. Mit praktischen Beispielen macht das Quintett deutlich, dass, egal welche Musik intoniert wird, es doch immer um die großen Themen des Lebens geht: Vergänglichkeit, Einsamkeit, Liebe und gegenseitiger Beistand. Protestantismus mit Noten eben.