Braunschweig. „Rock in Rautheim“ ist Deutschlands größtes inklusives Metal-Festival. Doch das laute Event ist keine Charity-Veranstaltung.

Publiziert in Standort38, 5/2024

Lebenshilfe. „Das steht für viele Menschen für Keramikwerkstatt. Für den netten Weihnachtsmarkt oder eine kleine Bühne mit einem Liedermacher“, sagt Marco Spiller – ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe Braunschweig.
Aber eine 13 Meter hohe Bühne, Pyrotechnik, eine LED-Leinwand? Und Heavy Metal? Für Spiller ist genau das entscheidend. Das inzwischen zweitägige „Rock in Rautheim“- Open Air widerspricht mit seinem Feuerzauber, gut besuchten Bierständen, schweren Gitarren und rund 1500 Zuschauern zunächst fast allem, was man sich unter dem Wort „Lebenshilfe“ vorstellt. Warum es doch zusammenpasst? Hier kommt Marco Spiller selbst ins Spiel. Der Versicherungsmitarbeiter mit dem langen Bart ist Metal-Fan durch und durch, sein Kerngedanke bei dem ganzen Projekt ist die Inklusion. Was als Kantinenveranstaltung für Bewohnerinnen und Bewohner, Mitarbeitende und Interessierte vor gut zwanzig Jahren begann, wollte Spiller groß machen. Er begann, nach und nach, die großen Bands der deutschen Metal-Szene anzufragen und das Gelände zu erweitern. Er begeisterte immer mehr Helfer und baute ein Netzwerk auf. „Mein Bruder sagte mir damals, das könne ich nicht machen, Metal und Menschen mit Beeinträchtigung zusammenbringen“, erinnert sich Spiller.

Lebenshilfe-Geschäftsführer Marco Spiller ist eine treibende Kraft hinter Rock in Rautheim.
Lebenshilfe-Geschäftsführer Marco Spiller ist eine treibende Kraft hinter Rock in Rautheim. © Torben Dietrich | Torben Dietrich

Auch die Geschäftsführung reagierte verhalten, nicht jeder war begeistert von der Idee. Der vorherige Geschäftsführer brachte viele Bedenken vor: Auseinandersetzen mit dem Gewerbeaufsichtsamt, die Sicherheit, zigtausend Dinge, an die man denken müsse. „Das waren wichtige Punkte“, sagt Spiller. „Denn wir sind keine Veranstaltungsprofis, das machen wir alles nach Feierabend, alles ehrenamtlich.“

„Wenn du das Thema Inklusion groß haben willst, musst du auch die großen Bands haben.“

Doch die Bands kamen und die Lern- und Einsatzbereitschaft sowie der Kreis der freiwilligen Helfer wuchs. Die Lernkurve, sagt Marco Spiller, verlaufe zwar immer noch steil, aber vieles sei mittlerweile auf sehr professionellem Niveau. „Diese Professionalität wird von den Bands auch eingefordert“, sagt er. Unter ihnen sind auch diesem Jahr wieder echte Metal-Urgesteine wie Rage und Accept-Sänger Udo Dirkschneider. Beim Rock in Rautheim wolle man mehr den Weizen statt die Spreu haben, sagt Spiller, denn: „Wenn du das Thema Inklusion groß haben willst, musst du auch die großen Bands haben.“

Der Mut zahlte sich aus. Das Veranstaltungsteam wurde im vergangenen Jahr mit dem Niedersächsischen Inklusionspreis ausgezeichnet und das Feedback der Zuschauer ist durchweg positiv, gar begeistert. „Rock in Rautheim musst du erlebt haben!“, sagt Marco Spiller. „Die Zuschauer kommen jedes Jahr wieder, weil sie sagen: Das haben sie so noch nie erlebt. Und das sind Leute, die haben schon viel gesehen.“ Aber eben noch nicht alles. „Wir ermöglichen Menschen mit Beeinträchtigung, ein Metal-Festival zu erleben“, sagt Spiller. „Teil von allem zu sein, von der ganzen Party. Die anderen Festivals in Deutschland können das nicht leisten.“

Die Band Godsnake mit einem Fan beim Rock in Rautheim.
Die Band Godsnake mit einem Fan beim Rock in Rautheim. © Frank Tobian | Frank Tobian

Rollstuhlfahrer sind erfreulicherweise fast überall selbstverständliche Gäste. Extrem selten hingegen ist Raum für geistig beeinträchtigte Menschen und ihre Betreuer, schon gar nicht in Gruppenstärke. Was für die Lebenshilfe tagtägliche Arbeit ist, ist für Viele oft eine neue Begegnung. „Denn Inklusion, heißt meist Rolli“, sagt Spiller. Schon der Umgang mit Tauben und Blinden ist für die meisten Menschen herausfordernd.

„Ich dachte zuerst: Der verarscht dich“

Auch für die Künstler:Innen war das Konzept völlig neues Terrain. Der Service beim Catering und in der VIP-Betreuung wird von beeinträchtigten Menschen gemacht, auch daran muss man sich erst gewöhnen. Umso herzlicher waren Spiller zufolge die Rückmeldungen der Bands, ihre Begeisterung für das Projekt, ihre Überraschung, wie gut Metal und Inklusion nicht nur harmonieren, sondern sich gegenseitig ergänzen können. „Peavy“ Wagner, Metal-Ikone und Sänger der Band Rage, wollte im Jahr nach seinem ersten Auftritt ganz privat zum Rock in Rautheim kommen. Einfach wegen der Atmosphäre. „Ich dachte zuerst: Der verarscht dich“, sagt Marco Spiller und lacht. „Ich konnte nicht glauben, dass der das ernst meint.“

Dabei ist das Rock in Rautheim keine Charity-Veranstaltung. „Die Leute kommen nicht, weil sie der Lebenshilfe etwas Gutes tun wollen. Die kommen, weil sie Rage sehen wollen oder Brothers of Metal“, sagt Spiller. Und das sei richtig so. Auch die Bands verzichten nicht auf ihre Gage. Zusammen mit den Kosten für die Bühne und das Equipment kommen die Veranstalter auf eine nicht unerhebliche Summe. Ohne die rund 200 freiwilligen Helfer, regionale Partner und Kooperationen mit anderen Festivals wäre das nicht zu stemmen, zudem wären die Eintrittspreise viel höher. „Ein ganz wichtiger Faktor ist aber die Aktion Mensch“, betont Spiller, ohne deren finanzielle Unterstützung könnte das Festival nicht umgesetzt werden.

Beste Stimmung auf der Rollitribüne des Rock in Rautheim.
Beste Stimmung auf der Rollitribüne des Rock in Rautheim. © Lebenshilfe Braunschweig | Lebenshilfe Braunschweig

Rock in Rautheim kann noch wachsen

Zu den regionalen Partnern gehört in diesem Jahr erstmals die Salzgitter AG. „Stahl und Metal sind doch eine geradezu klassische Verbindung“, schmunzelt Spiller. Das Engagement der Mitarbeitenden mit ehrenamtlicher Unterstützung, der Sponsorenauftritt und die extrem nachgefragte Ticketverlosung im Unternehmen zeigen laut Spiller, dass der Konzern gesellschaftliches Engagement nicht nur in Sonntagsreden hochhält.

Angesprochen auf mögliche neue Sponsoren sagt Spiller: „Man kann die Veranstaltung zusammen groß machen.“ Im nächsten Jahr, sagt er, und im Jahr danach, wurde bei den Headlinern in puncto Bekanntheit und Popularität nochmal eine Schippe draufgelegt.
Es sei noch Potenzial da, ergänzt auch Marketingreferent Jonas Scheiffele, aber es müsse organisch und „in Schritten wachsen, so dass wir von innen noch hinterherkommen.“ Größere Bands bedeuten auch mehr Zuschauer, ergo mehr Toiletten, mehr Bierwagen. Und das Festival solle, trotz allem Wachstum, immer inklusiv bleiben. Also explizit auch an alle gerichtet sein, die nur wenig Geld und aufgrund von Einschränkungen wenige Möglichkeiten haben.

Zwei Metal-Fans beim Rock in Rautheim leben Inklusion. 
Zwei Metal-Fans beim Rock in Rautheim leben Inklusion.  © Lebenshilfe Braunschweig | Lebenshilfe Braunschweig

Denn am Ende des Tages gehe es ja genau darum: Um Augenhöhe, um Zusammenhalt, um die Musik. Um das, was Rock in Rautheim ausmacht. „Ich könnte jetzt Videos von dem Open Air zeigen, ich könnte über tausend Eindrücke erzählen. Aber man muss es selbst erleben.“ Und von einem speziellen Moment erzählt Spiller dann doch noch. Einer der mehrfach beeinträchtigten Rollifahrer wurde von hinten von einem kräftigen Besucher umarmt, mit Lederjacke, Bart, langen Haaren. Beide schauten begeistert Richtung Bühne. „Wenn dir dann die Eltern von dem Rollifahrer sagen: Du siehst, dass er gerade der glücklichste Mensch der Welt ist – Da kriegst du Tränen in die Augen, da drehst du dich dann auch weg. Das ist ja genau das, worum es geht.“