Braunschweig. Das Herzog-Anton-Ulrich-Museum offenbart in Goyas rätselhaft-düstrem Radierzyklus „Los Disparates“ das dystopische Potenzial.

Optimismus geht anders. Schaut man sich Francisco de Goyas ziemlich genau 200 Jahre alten Radierzyklus „Los Disparates“ in der Sonderausstellung des Anton-Ulrich-Museums an, meint man das Grauen unserer Tage vorzufinden. Dabei handelt es sich nicht um die Kriegsszenen, die er in einem früheren Zyklus gestochen hat, sondern um jene von den späteren Herausgebern als „Sprichwörter“ getarnten Begegnungen mit menschlichen Tollheiten und Dummheiten, die gar nicht immer leicht zu deuten sind, aber unbedingt eine dystopische Zeit zu beschreiben scheinen, in denen Menschen, Tiere und Fabelwesen in merkwürdige Verbindung treten.

Da naht sich ein riesenhafter Clown mit Kastagnetten wie der Joker, macht mit breitem Grinsen auch dem aneinandergeschmiegten Menschenpaar Angst und wird begleitet von zwei freischwebenden Köpfen, als hätte er ein Hydrenhaupt. Ein Spaßmacher ist das nicht. In einem zunächst ausgelassen wirkenden Reigen machen die klobigen Männer eklig auf dicke Hose, die Frauen gute Miene zum bösen Spiel, das ist kein Freudentanz. Und eine merkwürdige Chimäre mit Geierkopf und Pferdeschenkeln entführt eine Frau und ihren nicht hilfreichen Galan, der sich hinter ihr versteckt, das schwankt zwischen Albtraum und Warnung, trau, schau wem.

Als Goya Besuch von der Inquisition bekam

Nicht jedes der 22 Blätter, die man in der wunderbaren Vitrinen des Papierarbeitensaals konzentriert studieren kann, lässt sich so ohne weiteres deuten. Thomas Döring, Leiter des Kupferstichkabinetts, ist da natürlich ein hilfreicher Begleiter, jedes Blatt erfährt aber auch eine kurze dienliche Deutung an der Vitrine. Erst 1980 hat Dörings Vorgänger Christian von Heusinger die vier Goya-Zyklen erstanden, und zwar Erstdrucke. Zu Goyas Zeit war nur der Stierkampfzyklus erschienen. „Nach den Kriegsblättern bekam er Besuch von der Inquisition, da hat er den Druck lieber unterlassen.“ Auch die „Disparatos“ erschienen zu Lebzeiten Goyas nicht, der wegen des zunehmend reaktionären Klimas in Spanien sicherheitshalber nach Bordeaux emigriert war.

Fransicso de Goya: „Weibliche Torheit“ aus dem Zyklus „Los Disparatos“ (Tollheiten). 
Fransicso de Goya: „Weibliche Torheit“ aus dem Zyklus „Los Disparatos“ (Tollheiten).  © HAUM | Jutta Streitfellner

Einen Probedruck Goyas aber besitzt das Anton-Ulrich-Museum, der nun in kontrastreicher Klarheit neben dem Blatt aus dem 1937 nachgedruckten Zyklus hängt, der viel toniger, gemäldehafter abgemischt wurde. Sechs Frauen werfen in einem breiten Tuch Strohpuppen in die Höhe, ein Spiel? Esel und Mann, die im Deckenfond zu erkenne sind, lese ich als Ausmalung des Tuchs, sonst wäre das wohl zu schwer für die Frauen, Döring nimmt sie real und rückt so auch die Strohpuppen wieder in den Bereich echter Menschen: „In diesem Zyklus sind Naturgesetze aufgehoben, Disparatos heißt auch Abweichung, Verrücktheit, das sehen wir hier.“

Einschüchterungsversuche des Staatsapparats

Da sitzen etwa einige Menschen wie dicke Vögel auf einem Ast, lassen sich von einem orientalisch gekleideten Vorbeter womöglich weismachen, es müsste alles so sein.

Ist es wirklich Tollheit der Angst (so der Titel), die eine ganze Schar vor einem zwar riesengroß wirkenden, aber doch wohl diffusen Gespenst fliehen lässt – oder hat sie ihre Berechtigung: Man könnte das auch als Aufruf lesen, sich gegen die verdummenden Legenden des Klerus und die Einschüchterungsversuche des Staatsapparats zu wenden, statt sich immer bange machen zu lassen. So könnte man auch den Elefanten auf einem späten Blatt deuten, dem die verschüchterten Reaktionäre das von ihnen um alle Grundrechte gebrachte rigide Gesetzbuch hinhalten, das er natürlich frisst – sein neues Gesetz heißt: Ich will satt werden.

Goyas „Torheit eines Dummkopfs“ erinnert an furchteinflößende Clowns bis hin zum Joker. 
Goyas „Torheit eines Dummkopfs“ erinnert an furchteinflößende Clowns bis hin zum Joker.  © Andreas Berger | Andreas Berger

Goya zeichnet die Dummheit in Säcken, da stecken alle geckenhaft frisierten, naserümpfenden Nobili in Mehlsäcken. Er schweißt Mann und Frau zu einem Mischwesen zusammen vor einem schimpfenden Kleriker, „während man meint, man könnte sehen, wie sich die Gesichter zu tierischen Fratzen verwandeln“, so Döring.

Gesicht und Maske nicht zu unterscheiden

Das ist wahr, kaum ein Gesicht ist nicht verzerrt, patschig oder schlierig. Bei seinen Karnevalisten ist nicht mehr zu unterscheiden, wer Maske trägt oder nicht. Und es ist furchtbarerweise sogar egal, alles Menschliche ist bereits grundsätzlich entstellt. Vielleicht empfindet man deshalb vor Goyas Figuren, auch wenn sie Grauenhaftes oder Gewalt erdulden, nicht wirklich Mitleid. Vielleicht fehlt einem deshalb beim Betrachten dieser Bilder die Hoffnung, dass es je besser werden könnte, dass Aufklärung, Revolution oder Nächstenliebe die Menschen wieder zu menschlichen Wesen machte. Aber vielleicht sind sie deshalb auch so beunruhigend und beunruhigend aktuell.

Ein Film der HBK erklärt, wie Studierende Goyas Aquatinta-Radierweise (und Themen) handhaben, die Ergebnisse gibt’s live.

Eine Ausstellung, die zum Fabulieren am Objekt einlädt.

Bis 4. August, Di.-So. 11-18 Uhr.

Blick in den Erklärteil der Ausstellung, in dem HBK-Studierende das Material Goyascher Aquatintaradierungen und ihre eigenen Versuche darin zeigen.
Blick in den Erklärteil der Ausstellung, in dem HBK-Studierende das Material Goyascher Aquatintaradierungen und ihre eigenen Versuche darin zeigen. © HAUM | Jutta Streitfellner