Braunschweig. Jan Lisiecki gestaltete ein Programm nur aus Préludes, aber so spannend gebaut, dass er sein Publikum wiederum zu fesseln vermochte.

Das Konzert war wie eine große Wette: Kann man nur aus Préludes, also den Vorspielen zu den Hauptstücken, einen ebenso spannenden Abend zaubern, wie wenn man alle Stückchen schön in der Reihenfolge belässt?

Jan Lisiecki, bei Braunschweigs Meisterkonzerten schon mehrfach mit assoziativen Programmen erfolgreich, hatte am Sonntag zwei Präludien-Pakete geschnürt: Ein gemischtes, das ausgehend von Chopins Regentropfen-Prélude nach den Übergängen suchte und so noch einmal zurück zu Bach und dann tüchtig vorwärts bis zu Rachmaninow, Szymanowski, Messiaen und Gorecki führte. Und eins mit sämtlichen Préludes op. 28, wie sie Chopin selbst konstrastreich komponiert hatte. Mit beiden reüssierte Lisiecki nachhaltig.

Der Klangbogen des ersten Teils hatte dabei noch den Nebeneffekt, dass in so assoziativer Reihung die Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts nicht mehr als Fremdkörper herausstechen, sondern sich in ihrer immer weiter ausgereizten harmonischen Kühnheit in die Klangdramaturgie fügen.

Préludes aus dem verregneten Mallorca

So geht es also los mit Chopins melancholisch tropfendem Prélude, das man sehr gut mit leise aufs Fensterbrett rinnenden Regentropfen assoziieren kann, mag er das nun geschätzt haben oder nicht – letzteres behauptete Lebensgefährtin George Sand. In den mallorquinischen Regentagen dieses innerlich wie erotisch nicht recht zusammenkommenden Paares mag es genug Anlass für sehnsüchtige Blicke aus dem Fenster hinaus gegeben haben. Auch in dem kleinen Prélude Nr. 15 gibt es eine düstere Passage, die Lisiecki entsprechend heftig nimmt, bevor das lyrische Ich des Stücks in Wehmut zurückfällt.

Lisiecki ist zum Glück kein Harmonisierer und kein Leisetreter, bei ihm kommen die dramatischen Möglichkeiten mit Wucht auf den Tisch. Innerhalb eines Préludes und von einem Prélude zum anderen. Das Chopin-Prélude As-Dur mit seiner quirlig fließenden Geste landet bei Bachs Präludium C-Dur, das ähnlich flüssig, aber klarer in der Struktur für eine Reinigung der Gedanken sorgt, bevor dann Rachmaninows d-Moll-Prélude heftig dagegendonnert und mit dunkler Grundierung wieder das problematische Ich der Romantik und Moderne aufruft.

Quirlige Ton-Böen bei Messiaen

Dazu passt die zärtliche Introvertiertheit Karol Szymanowskis, quasi ein Wiedergänger seiner Landsmanns Chopin und von Lisiecki mit der umflorten Weichheit ausgestattet, die diesen chromatisch weitergetriebenen Andantinos zukommt.

Es ist schön, wie daraus der 1992 gestorbene Olivier Messiaen mit seinen karger und harmonisch noch selbständiger in den Raum gesetzten Tönen hervorgeht. Aus den kühl buchstabierten Noten macht Lisiecki schon bald eine traurige Landschaft, immer wieder von hohen und trillernden Tönen verfremdet, bis die klimpernden, quirligen, zuletzt zackigen Böen der „nombre léger“ dem Ende zueilen. Es kann auch mal ungemütlich werden im Leben. Das schwelgerische Chopin-Prélude op. 45 bleibt nur ein kurzer Traum, schon haut Lisiecki mit satter Pranke die dramatische Steigerung aus Rachmaninows Fantasie-Prélude op. 3 in die Tasten.

Chopins kontrastreiche Préludes

Womit wir bei dem 2010 gestorbenen Polen Henri Gorecki wären, seinem disharmonischen Vorwärtspreschen, den kribbelnd aufsteigenden Noten und den satten abwärtsführenden Akkordschritten. Im zweiten Stück hochvirtuose Läufe und extreme Höhen, klasse wie Lisiecki das expressiv auffährt. Wirklich eine aufrüttelnde Seelenreise, die er sich da aus den Präludien zusammengestellt hat.

Der zweite Teil mit den 24 Préludes von Chopin op. 28 ist nicht weniger abwechslungsreich. Lisiecki macht daraus ein Kaleidoskop an Stimmungen, wie sie Chopin so in Kürze skizziert hat. Man kann das Paket als Panoptikum seines mit sich selbst ringenden Wesens lesen.

Virtuosität im Zeichen des Dramas

Lisiecki ist auch hier ein prägnanter Deuter, kein lieblicher Charmeur. Das Lento mit der kargen Melodie drüber klingt richtig düster, das chromatische Largo introvertiert, bevor das Molto allegro die Seele wie in einen Strudel reißt. Die ostinaten Dunkeltöne in Nummer 12 und 22 kommen mit schicksalhafter Wucht, im Presto con fuoco befeuert die Pranke die flotten Läufe wie bei einer Verfolgungsjagd, und mit dramatischer Geste reißt das Appassionato am Schluss hin.

Diese Préludes sind nicht für den Salon, alle Virtuosität steht im Zeichen des Dramas, das macht Lisiecki kraftvoll klar! Wette gewonnen.

Großer Applaus, Bravos, Füßetrappeln.