Hamburg. Zum 85. Geburtstag des Hamburger Ballettchefs John Neumeiers liegt auch sein jüngstes Werk, „Dona nobis pacem“ nach Bach, auf DVD vor.

Am Sonnabend wurde er 85, doch John Neumeier ist agil und kreativ wie eh. Gerade bereitet er seine letzte Uraufführung als Chef des Hamburg-Balletts vor, das er seit 31 Jahren leitet. Seine jüngste Choreographie „Dona nobis pacem“ aus dem Dezember 2022 liegt inzwischen beim Label Cmajor auf DVD vor und lässt noch einmal in allen Details ein Werk entdecken, das schon live sehr unmittelbar berührte und Neumeiers Ringen nicht nur mit dem Friedensthema, sondern mit der ganzen Bedingtheit des Menschen in der Welt anschaulich machte.

Und so sehen wir Kriegswirklichkeit, wie sie während der Proben durch den russischen Überfall auf die Ukraine auch uns wieder nahe rückte. Sandsäcke, marschierende Soldaten, ein Kriegsreporter, Gedenkfotos, vor denen eine Witwe Blumen niederlegt. Und ein Kriegsheimkehrer, ein traumatisiert Geflüchteter mit Koffer, dem Fotos und ein Spielzeug entfallen. Vielleicht hat er ein Kind, vielleicht seine Kindheit verloren. Alexei Martínez kriecht ganz hinter diesen Koffer, entfaltet langsam seine Glieder, dann verknotet er sich wieder in sich selbst, es ist noch schwer für ihn, wieder in der Welt zu stehen.

Fröhlich springende Engelwesen

Dazu erklingen die Gesänge aus Bachs h-Moll-Messe. Sie künden von göttlicher Fürsorge, von Jesu Gnadentod und Erlösung. So entsteht immer wieder ein Spannungsfeld zwischen fröhlich springenden, weiß gekleideten Engelwesen, die emsig um die trauernden Menschen bemüht sind, und eben der Kriegs- und Todesrealität, in der man wohl frohe Botschaft hört, aber mit dem Glauben ringt. Doch auch er sei eine Realität im Seelenleben jedes Menschen, sagt Neumeier, und sieht alles Zweifeln als Bestätigung dieser These. Im „Gratias“ hat jeder (gefallene) Soldat einen Engel an seiner Seite, mit ausgebreiteten Armen stehen sie Rücken an Rücken, laden sich ruhig den anderen auf. Und unheimlich fein und achtsam hebt Edvin Revazov als Soldat Anna Laudere als Witwe an, wie ein tröstender Geist des Gatten, der sie wieder aufrichtet und stützt.

Der Schatten auf Hiroshimas Mauer wird wieder Körper

Großartig das Solo von Alessandro Frola als Schatten auf der Mauer von Hiroshima, von dessen Körper nichts blieb, der aber nun zwischen Spagat und Drehsprüngen mahnend seine Energie nochmal verkörperlicht. Zum „Crucifixus“ wird der Heimkehrer in Kreuzhaltung erhoben, als folgte er Jesu Gnadenweg nach, und so darf er zum „Resurrexit“ (Auferstanden) auch wieder loswirbeln, als müsse er alle Körperteile neu ausprobieren.

Zur abschließenden Friedensbitte „Dona nobis pacem“ schauen sich die Tanzenden tief in die Augen, erkennen im Nächsten sich selbst und den nämlichen Friedenswunsch. Die ausgestreckte Hand ist bereit zum Geben und Nehmen. Ein stilles, erhebendes Bild. So schaffen Neumeier und seine ausdrucksstarke Compagnie den Weg aus der (Kriegs)Realität in Utopie und Trost.