Hamburg. Der Choreograph mit Gespür für immer neue Tänzer-Entdeckungen feiert mit seinem Hamburg-Ballett Jubiläum. Eine Saison Nachspielzeit.

Auch in der 174. Vorstellung seiner Choreographie des „Schwanensees“ sitzt John Neumeier wieder in der ersten Reihe der Hamburger Staatsoper, wie fast immer, wenn seine Compagnie tanzt. 50 Jahre und 5400 Vorstellungen hat der gebürtige Amerikaner und längst Hamburger Ehrenbürger mit wechselnden Generationen an Tänzerinnen und Tänzern gestaltet. Und es mag dieses nie ermüdende Interesse an den Leistungen in jeder Vorstellung sein, das die besondere Qualität des Hamburg-Balletts gewährleistet, ihn aber vor allem immer wieder neue Talente entdecken lässt. Die Ballett-Tage am Ende seiner Jubiläumsspielzeit zeigen noch einmal die ganze Bandbreite seines Wirkens, und da der Nachfolger Demis Volpi erst im nächsten Sommer kommt, wird es noch eine Nach-Spielzeit in der alten Konstellation geben. Also jetzt schon mal buchen!

Dass auch Neumeiers Klassiker so gleichbleibend frisch und heutig wirken, hat viel damit zu tun, dass er die klassische Ballett-Sprache zwar noch nutzt, oft aber auch nur zitiert und vor allem immer psychologisch begründet. Da springt etwa in Prokofjews „Romeo und Julia“ die erst 15-jährige Azul Ardizzone barfuß und nur mit einem Badehandtuch umwickelt in die Szene, ein junges Mädchen ohne Prätentionen, auf Entdeckungsreise zu sich selbst und ihrer Sexualität wie jede andere ihres Alters. Wenn sie später doch auf Spitze geht, von ihrer ersten Liebe Romeo getragen wird, dann heben die beiden ab in die Welt ihrer romantischen Verliebtheit, in irreale Sphären, die diese besondere Ästhetik verträgt. Aber sie machen noch viel anderes als klassische Figuren. Und Romeo (Louis Musin) ist ebenso ein ausgelassener Junge, der mit Salto rückwärts hereinturnt und mit Bruder Lorenzo (Lennard Giesenberg) wie mit seinesgleichen herumtollt, denn selbst der Priester ist ein junger Mann, der ein mindestens brüderliches Verständnis für Romeo hat.

Liebende, die zueinanderhechten: Louis Musin als Romeo und Azul Ardizzone als Julia in „Romeo und Julia“ von John Neumeier am Hamburg-Ballett.
Liebende, die zueinanderhechten: Louis Musin als Romeo und Azul Ardizzone als Julia in „Romeo und Julia“ von John Neumeier am Hamburg-Ballett. © dpa | Markus Scholz

Dagegen abgesetzt ist die Welt der Erwachsenen, die in den steifen Posen der italienischen Renaissance-Friese auftreten. Bleiben ihre Hände ablehnend auswärtsgestellt, finden die Romeos und Julias zueinander. Und wenn Ardizzone neben naiver Neugier noch etwas mehr weiblich-italienische Frechheit hätte, wäre das Traumpaar noch perfekter. Packend, wie beide auch ihre existentielle Not auszudrücken vermögen: Liebende aus feindlichen Familien in Zeiten hohler Ehrbegriffe - sie sind leider immer noch so todgefährdet wie in Shakespeares Tragödie.

Ida Praetorius als Dornröschen und Alexandr Trusch als Prinz Désiré in Jeans in der „Dornröschen“-Choreographie von John Neumeier am Hamburg-Ballett.
Ida Praetorius als Dornröschen und Alexandr Trusch als Prinz Désiré in Jeans in der „Dornröschen“-Choreographie von John Neumeier am Hamburg-Ballett. © dpa | Georg Wendt

Auch in seiner Version von „Dornröschen“ jongliert Neumeier raffiniert mit den Zeitstufen: Der Prinz ist zunächst ein mit seinen Kumpels und Bierkiste feiernder Jugendlicher, der sich im Wald in für ihn neue romantische Gefühle verliert. So erlebt er im Traum das Herausreifen Dornröschens, die nach ihrer ersten Blutung durch den Spindelstich in pubertäre Lethargie gefallen ist. In Jeans streift er durch ihre Welt, wird aber nicht wahrgenommen. Auch er muss sich erst durch Leid und Dornen schlagen, bis er mit einem Kuss sie und sich erlöst. Ihr nun ganz klassischer Pas de deux enthebt aus allen Zeitstufen, doch dann folgt das Erwachen, und unser Jeansprinz muss sehen, wie er sich dem lesenden Mädchen auf der Bank in der Wirklichkeit naht. Ida Praetorius, perfekt auf Spitze, hat durchaus etwas Unnahbares. Aber Alexandr Trusch ist ein so entwaffnend ungebärdiger, auch lustiger und dann wieder sehr gefühlvoller Tänzer, er wird wohl auch sie überzeugen.

Als Eröffner erster erotischer Ideen tritt er auch als Kadett Günther in Neumeiers „Nussknacker“ auf, wenn er auf dem Geburtstagsball unversehens mit der pubertären Marie zusammenstößt. Angeregt von den Ballettschuhen, die ihr Pate Drosselmeier alias Choreographenlegende Marius Petipa schenkt, erlebt Marie einen Traum, in dem sie an des Paten Hand in die Welt des klassischen Balletts eintaucht. So sieht sie die Exercises der Ballerinas in von Degas inspirierten Arrangements und darf ihren ersten Pas de deux mit Günther tanzen. Auch die klassischen Einlagen sind als Zitate von Petipas Balletten angelegt. Mädchenträume.

Finaler Pas de deux: David Rodriguez (links) als Der Mann im Schatten und Alexandr Trusch als Der König in John Neumeiers Ballett „Illusionen - wie Schwanensee“ beim Hamburg-Ballett.
Finaler Pas de deux: David Rodriguez (links) als Der Mann im Schatten und Alexandr Trusch als Der König in John Neumeiers Ballett „Illusionen - wie Schwanensee“ beim Hamburg-Ballett. © picture alliance/dpa | Christian Charisius

Aber es gibt auch Jungsträume - wenn Trusch als junger Mann mit einem Ausdruck in sich gekehrter Traurigkeit den König in „Schwanensee“ tanzt, von Neumeier als Ludwig II. gedeutet. Wiederum: der klassische weiße Schwanenakt mit den Tutus und den vier kleinen Schwänen ist als Zitat einer Privataufführung des Königs angelegt. Wie der heiratsunwillige Schwanensee-Prinz verliebt sich der König in die unerreichbare Märchenfigur der Schwanenprinzessin, eine Fluchtfantasie, die in dem Moment scheitert, wo die reale Prinzessin Natalia (Ida Praetorius) vor ihm steht. Spannend ist hier die Figur des Schattens, die wie in Thomas Manns „Tod in Venedig“ - auch dies ein Neumeier-Ballett - in verschiedenen Gestalten wiederkehrt. Sie ist sowohl Figuration des Todes wie der (damals) verbotenen Liebe. Und so tanzen den letzten Pas de deux vielsagend der König und der Schatten (Florian Pohl), bevor die Wellen des blauen Vorhangs darüber zusammenschlagen.

Es ist immer spannend zu sehen, wie detailreich Neumeier solche versteckten Leitmotive setzt. Da tritt Romeos Freund Mercutio (Alessandro Frola) in seinem Schau-Spiel am Theaterkarren mit Totenmaske auf und wird bald selbst, herumalbernd, sterben. Es gibt den Wiedergänger bis in die moderne Choreographie von Tennessee Williams‘ Schauspiel „Endstation Sehnsucht“ hinein: Der mit seinem Geliebten ertappte Bräutigam Blanches wird sie nach seinem Selbstmord in den Stationen ihres Abstiegs immer wieder heimsuchen, quälendes Gewissen und am Ende als Anstaltsarzt ihr Ruhepol. Auch Blanche nutzt die Spitze als Ausdruck verklärter Vergangenheit, die in Kontrast steht zu den erotischen Turnereien Stans in ihrer neuen Wirklichkeit. Das Stück war als Gastspiel aus Prag in Hamburg und wird in der neuen Saison wieder vom Hamburg-Ballett gezeigt.

Das Hamburg-Ballett und Marc Jubete als Christus (Mitte) in John Neumeiers Choreographie der „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach.
Das Hamburg-Ballett und Marc Jubete als Christus (Mitte) in John Neumeiers Choreographie der „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach. © Hamburg Ballett | Kiran West

Bleiben die vielen Zitate klassischer Hebungen und vor allem Sprünge in Neumeiers Beethoven-Projekten oder dem „Weihnachtsoratorium“. Und die existentiellen Ausdrucksmöglichkeiten, die er den quasi modernen Figuren wie Maria und Josef auf der Flucht, besonders aber den Jüngerinnen und Jüngern in Bachs „Matthäuspassion“ erschließt. Zum Jubiläum nochmal am Uraufführungsort, dem Hamburger Michel, mit exzellenter Live-Musik gezeigt, berührt diese emblematische Arbeit Neumeiers immer wieder durch die Charakterzeichnung seiner Tänzerinnen und Tänzer. Diese junge Schar in die virulenten Fragen von (Mit)Schuld und Reue eingeführt zu haben, zeugt von Neumeiers Teamgeist. Und so sehen wir uns angesichts dieser einheitlich gekleideten jungen Menschen selbst in den wechselnden Positionen des untreuen (Edvin Revazov) oder hilflosen Freundes (Alexandr Trusch), des wütenden Anklägers (Matias Oberlin) und der mütterlich Liebenden (Anna Laudere), denen sich Nicolas Gläsmann in unfasslicher Milde wie der Christus ausliefert, während die Gruppe stampfend tobt.

Neumeiers Ballette werden auch in Stuttgart, Paris, den USA und Kanada getanzt. Sein Vertrauens-Tänzer Lloyd Riggins wird sich unter der neuen Intendanz um sein Repertoire in Hamburg kümmern. Es ist wichtig, dass die großartige Compagnie zusammenbleibt. Klar wird Volpi auch eigene Akzente setzen (müssen). Neumeier (84) nutzt den Epilog nochmal für eine eigene Uraufführung im Juni 2024.

Infos und Karten unter Telefon (040) 35 68 68 und www.hamburgballett.de