Braunschweig. Isabel Ostermann inszeniert Strauss‘ Bibel-Oper als Rebellion einer verwöhnten und missbrauchten Tochter, die selbst Täterin wird.

Mädchen aus gutem Hause zur Stippvisite zurück im elterlichen Heim. Was mit Blumen und Champagner in der modernen Designer-Villa beginnt, wird schon bald ausarten in eine Abrechnung über jahrelange Übergriffigkeiten in Kindheitstagen und etwas, was man heute mit Adultismus bezeichnet und uns bald via Zwischentiteln erklärt wird: Machtmissbrauch der Erziehungsberechtigten, der weit über Erziehung hinausgeht.

Stephan von Wedel hat für Richard Strauss’ „Salome“ im Braunschweiger Staatstheater einen schicken Käfig aus Stahlstreben und Vorhängen vor großen Fensterflächen gebaut. Das biblische Herrscherpaar Herodes und Herodias lebt auf großem Fuße wie ein Manager heute, Sicherheitskräfte inclusive. Salome, Tochter der als etwas lasterhaft beleumundeten Herodias und Stieftochter des Herodes, weckt bei ihrer Ankunft die alten Gefühle des Angestellten Narraboth, wird wie einst verwöhnt mit Geschenken, Liebkosungen, Essen.

Das Unser-Darling-Salome-Idyll hat Risse

Und zwar von allem zu viel: Narraboth setzt sie mit seiner devoten Liebe ebenso unter Druck wie Herodes, der die Masche Vaters Tochter mit ihr durchspielt, ganz eng sind die beiden, verstehen sich gegenüber der Mutter, irgendwann hockt er zu ihren Füßen zwischen ihren Beinen. Muttern dagegen spielt die Karte der Nährerin weiter und füttert sie mit Torte, bis Salome sie ausspuckt.

Und dann ist da noch Außenseiter Jochanaan, der sie zurückweist, ein neuer Reiz. Selbst als er dann doch auf ihr liegt, betont nur seine Abweisung: Was hättest du von einer Runde Sex mit mir, ich liebe dich doch nicht.

Aber auch das familiäre Unser-Darling-Salome-Idyll hat bereits Risse: Regisseurin Isabel Ostermann legt wie gewohnt präzise die psychologischen Untergründe der Geschichte frei, lässt das manipulative Potenzial der (emotionale Vernachlässigung kompensierenden) Überfürsorge spürbar werden. Erst recht, wenn Salome dem Wunsch des Vaters nachkommt, zu tanzen – abweichend vom Text nicht für, sondern mit ihm. Gar nicht mal eng umschlungen, es könnte alles auch ganz harmlos sein. Und bis hierher sehen moderne „Salome“-Inszenierung immer so ähnlich aus.

Voyeurismus von Salomes Tanz verweigert

Doch nun geht der schwarze Vorhang runter. Ostermann verweigert den Voyeurismus von Salomes Tanz, blendet stattdessen in Textform ein, was alles schiefgehen kann bei der Kindeserziehung und in Gestalt des Adultismus in diesem Haus offenbar auch schiefgegangen ist. Als exotischen Tingeltangel kann man den Tanz heute ja nun wirklich nicht mehr vorführen. Die jüngste Hamburger Inszenierung etwa zeigte, wie Herodes die erstarrte Salome nicht aus-, sondern nach seinen Vorstellungen mangamädchenhaft einkleidete. Vor zehn Jahren zitterte sich in Braunschweig ein Alter Ego Salomes die Demütigung der Zurschaustellung und des Missbrauchs minutenlang durch den Leib. Dagegen wirkt Ostermanns Fassung nun etwas akademisch, aber ist gleichwohl konsequent.

Zumal in der Fortsetzung. Denn nach dem Tanz geht der Vorhang wieder hoch, zeigt nur noch das Skelett der Villa und die drei Erwachsenen, die ihr zugesetzt haben, gefesselt an den Streben. Es beginnt Salomes Rache. Nun füttert sie die Mutter mit Torte. Nun streichelt sie Jochanaan unter der Kuscheldecke. Nun sollen die Eltern für ihre Freilassung den Außenseiter töten, das Messer wandert hin und her.

Erwachsene in Angst und Schrecken

Salome lässt alle wieder frei, lächelt, als Herodes textgemäß ihre Tötung verlangt. Sie hat ihre Rache gehabt, hat die Erwachsenen in Angst und Schrecken gesehen. Die Manipulation, deren Opfer sie war, beherrscht sie nun selbst. Tatsächlich werden oft genug Missbrauchsopfer zu Tätern. Inszeniert Ostermann im ersten Teil die Fassade, zeigt sie im zweiten Teil die Struktur, die dahintersteckt. Eine entlarvende Interpretation, die einen unangenehm berührt.

Passt das zur Musik? Und wie. Richard Strauss liefert zwar auch die etwas parfümierte Fin-de-Siècle-Üppigkeit, die Oscar Wildes lüstern-erotischer Ambivalenz entspricht, aber sie ist geprägt von einer durchgängig beunruhigenden Nervosität, krassen Harmonien, clusterhaften Aufschreien im Orchester. Srba Dinic weiß den Walzertakt immer wieder bedrängend aufzuschaukeln.

Braunschweigs Staatsorchester bestens aufgestellt

Glänzend widerstehen dabei solistisch hervortretende Instrumente dem Sog, konterkarieren Flöte und Klarinette den Schwall, lassen brummende Bässe unter schrägen Solobassseufzern die Anspannung vor der erwarteten Tötung Jochanaans steigern, dräuen Kontrafagott und Fagotte karikierend, bevor die Sänger der Juden – aus dem Publikum heraus – um den Messias streiten. Dinic wagt auch ein ins Schrille führendes Accelerando am Ende des Tanzes, die perkussive Explosion, als Jochanaans Tod gewährt wird, den krachenden Cluster am Schluss. Auf allen Positionen eine starke Orchesterleistung.

Und Dorothea Herbert singt mit unermüdlicher Stimme die Titelpartie, legt sich mit üppigem Sopran mal in die Wogen, mal sticht sie aus ihnen hervor. Bannend bis in den langen Schlussmonolog. Hans-Georg priese charakterisiert mit heldenhaft klarem Tenor den Herodes, Ursula Hesse von den Steinen mit schön fülligen Tönen die Herodias, und Matthew Peña mit leuchtender Lyrik den verliebten Narraboth. Michael Mrosek gibt den Jochanaan mit dramatisch bewegtem Bassbariton, da wäre mehr prophetisch strömende Weichheit denkbar. Rainer Mesecke etwa lässt sein Christus-Zeugnis als Nazarener wärmend fluten. Das Ensemble ergänzt präzise. Viel Applaus für eine starke Deutung und mitreißende Stimmen und Musik.

Wieder am 15., 22., 30. Dezember, 5., 10., 19., 21., 26. Januar. 1., 11. Februar.
Karten: (0531) 1234567 und www.konzertkasse.de