Braunschweig. Gilbert Holzgang hat eine detaillierte Biografie der Braunschweiger Künstlerin und Promoterin der Malergruppe Blaue Vier vorgelegt.

Die Bessere-Töchter-Erziehung passte nicht zu ihr. Schon als kleines Mädchen rannte Emilie Esther Scheyer lieber mit den Jungs durch die Höfe und Gärten am Braunschweiger Löwenwall und der heutigen Jasperallee, wo die Familie stattlich wohnte, kletterte auf Bäume und achtete nicht darauf, dass ihre Halbschuhe schmutzig wurden. Alles sehr zum Ärger ihrer gutbürgerlichen Mutter Henriette, die sie eigentlich nur gut verheiraten wollte, wie es üblich war im Braunschweiger Bürgertum um 1900. Die jüdische Unternehmersgattin unterschied sich da nicht von anderen Braunschweiger Honoratiorinnen.

Aber Emmy war eine Rebellin, wie nicht nur ihre Freundin Lette Valeska bestätigt, die eine ähnliche Karriere von Braunschweig aus nach Hollywood gemacht hat. Auch unter den vier expressionistischen Malern, die Emmy Scheyer bald eigenständig bis hin nach Amerika vertreten sollte, Jawlensky, Feininger, Kandinsky und Klee, galt sie als energisch: „Dear little Tornado“ nannte sie Lyonel Feininger gern in seinen Briefen.

Alte Fotos aus der Kindheit in Braunschweig um 1900

Gilbert Holzgang hat nach jahrelangen Studien und drei Theaterstücken über die spektakulären Lebensabschnitte Emmy Scheyers nun eine Biografie in Katalogbandstärke vorgelegt, 352 Seiten, Din A4, mit zahlreichen prächtigen Fotos ihrer und der befreundeten Künstler Gemälde sowie dokumentarischen Fotos aus der Braunschweiger Kindheit, den Lehr- und Wanderjahren in München, Brüssel, Italien, der reifen Zeit in Hollywood, wo sie im Dezember 1945 nach schwerer Krankheit starb.

Galka Scheyer: „Boot in Viareggio“ um 1910.
Galka Scheyer: „Boot in Viareggio“ um 1910. © holzgang | holzgang

Es ist weit mehr als eine Biografie, denn Holzgang hat – auch für frühere Produktionen seines Theaters Zeitraum – viel recherchiert über das Klima im Braunschweiger Bürgertum der 19. Jahrhundertwende. Hat sich insbesondere die Kunstszene der Zeit angeschaut, die in Gestalt der Impressionisten Gustav Lehmann, Götz von Seckendorff und Albert Hamburger, der wie Emmy selbstbewussten jungen Malerinnen Käthe Evers, Elsa Daubert und Anna Löhr den konservativen Kunstgeschmack hinterm Harze etwas aufmischten. Manchmal verliert sich Holzgang etwas in den Biografien der Jungs, die es alle nicht über den Ersten Weltkrieg schafften, aber man liest das mit Gewinn, denn es kennzeichnet die libertine Strömung, die es eben auch damals gab und die ganz Emmys Lebensgefühl entspricht.

Freiluftmalen in Riddagshausen

Mit Lehmann, bei dem sie Malunterricht hat, mit Hamburger und Daubert, die mit ihr in Riddagshausen beim impressionistisch bewegten Freiluftmaler Charles Palmié lernen, ist sie später gemeinsam in Italien unterwegs. Es entstehen gegenseitige Porträts. Wie viel Erotik zwischen Gustav und Albert, Elsa und Gustav im Spiel ist, auch Holzgang kann nur ahnen.

Und da ist er ja sowieso ein ganz Rechtschaffener. Es gibt viel „falls, vielleicht und könnte sein“ in seiner Darstellung, etwa wenn sich Besuche Emmys in den Braunschweiger Ausstellungen Lehmanns, die damals im herzoglichen Schloss stattfanden, nicht beweisen lassen, aufgrund der zeitgleichen Anwesenheit in der Stadt und ihrer Freundschaft aber wahrscheinlich sind. Leider hat Emmy Scheyer ihre Tagebücher testamentarisch zur Vernichtung bestimmt. Briefe sind auch nicht immer vorhanden.

Gründung der Künstlergruppe „Die Blaue Vier“

Als der Vater Leopold 1910 stirbt, übernehmen die beiden Brüder die Konservenfabrik, Emmy erhält eine Rente, die noch bis 1937 bezahlt wird. Insofern kann sich die Familienrebellin das Leben als Künstlerin leisten, das sie fortan führt. Ihre Arbeiten werden schon bald expressionistisch, der eher stürmische Farbauftrag liegt ihr offenbar. Gleichzeitig begeistert sie sich für andere Künstler. So lernt sie in der Schweiz Alexej von Jawlensky kennen, später am Weimarer Bauhaus Feininger, Kandinsky und Klee. Und während ihr Bruder Erich in Braunschweig 1924 die „Gesellschaft der Freunde junger Kunst“ gründet, für die Kandinsky das Signet entwirft, schmiedet sie bereits Pläne, die vier Größen in Amerika zu promoten, und erfindet den Markennamen „Die Blaue Vier“.

Autor Gilbert Holzgang vor einem Selbstporträt des Malers Gustav Lehmann.
Autor Gilbert Holzgang vor einem Selbstporträt des Malers Gustav Lehmann. © Andreas Berger | Andreas Berger

Holzgang gelingt der Spagat zwischen Lokal- und Weltperspektive gut. Den Freunden Junger Kunst steht auch in Braunschweig zunächst reaktionäres Unverständnis und bald Polemik und Verfolgung durch die Nazis gegenüber. Während Emmy Scheyer sich mit dem von Jawlensky verliehenen Spitznamen Galka, Russisch für die Dohle, in Amerika etabliert, ihr atemberaubendes Galeriehaus am Hang von Hollywood kauft, geraten die expressionistischen Künstler und die jüdische Familie in Deutschland immer mehr unter Druck. Ausgerechnet zu Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 ist sie sogar in Braunschweig zu Besuch.

Bürgschaft für Ausreise der jüdischen Verwandten

Sie besorgt 1939 die Einwanderungsbürgschaft für die Brüder, eine dritte für die Mutter würde die ersten im Wert senken, so habe man ihr erklärt, schreibt Galka Scheyer in einem Brief. Als Erich von selbst nach England ausreisen kann, Paul in die USA gelangt ist, besorgt sie die Bürgschaft für die Mutter. Deren Verzeichnis des Umzugsguts wird im August 1939 schon bewilligt. Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Mutter Henriette und deren Schwester gelangen in ein Altersheim in Hannover, wo Henriette 1941 nach einer Erkältung stirbt. Holzgang dokumentiert auch die Vorwürfe aus Pauls Familie, Galka habe sich zu wenig für die Mutter eingesetzt und diese habe Selbstmord begangen. Dafür gibt es keine Belege. Holzgang räumt ein, auch die Erkältung könnte sie sich aus Angst vor den Deportationen mit Todesabsicht zugefügt haben.

Foto von Galka Scheyer in Hollywood.
Foto von Galka Scheyer in Hollywood. © jaspi | Jasper

Wer wann wie zu spät gehandelt hat, wird sich in diesen Fällen nie sagen lassen. Ohne die Rente aus Deutschland war nun allerdings auch Galka in Bedrängnis. Ihre beliebten Malkurse will sie für schwarze und benachteiligte Kinder kostenlos geben, dafür bräuchte sie selbst Unterstützung. Gleichzeitig will sie ihren „Malerkönigen“ in Europa durch Verkäufe Geld zukommen lassen: Sie gibt deren Gemälde zum Beispiel leihweise ihrer Freundin Marlene Dietrich, damit deren Gäste sie sehen.

„Diese Kunst ist keine Ware“, betont sie, man könne sie oberflächlichen Menschen nicht verkaufen. Feiningers Bilder etwa müssten „ihr eigenes Leben von sich strahlen“, bis die Menschen es spürten, dann würden sie auch kaufen. Während ihrer Krebserkrankung werden ihr die Gemälde selbst zum Trost, wie sie schreibt. Viel Lesestoff, eine spannende Zeit, ein spannendes Leben. Unbedingt lesenswert.

Gilbert Holzgang: „Galka Scheyer. Ein Leben für Kunst und Kreativität“. Michael-Imhof-Verlag, 49,95 Euro.