Braunschweig. Die renommierte Fachzeitschrift „Die deutsche Bühne“ feiert die „Erweiterung des Ringgebiets“ als revolutionäres Projekt - zu Recht?

Klar, ein Theater ist glücklich, wenn es überregionale Aufmerksamkeit erfährt. Und dann auch noch in einer renommierten Fachzeitschrift. Und dann auch noch überbordend enthusiastisch, mit brachialem Willen zum Alles-Gutfinden, mit innigem Einverstandensein, mit vorbehaltloser Bewunderungsbereitschaft.

Wagners Mammutwerk

Es geht um die „Erweiterung des Ringgebiets“, also Richard Wagners Mammutwerk „Der Ring des Nibelungen“ in der vergangenen Spielzeit unter Beteiligung aller vier Sparten am Staatstheater Braunschweig. Die Würdigung in der jüngsten Ausgabe der „Deutschen Bühne“ gipfelt in dem Satz, dieses Wagner-Projekt sei ein Leuchtturm im bundesweiten Wagner-Wirrwarr.

Es geht der Laudatorin vor allem darum hervorzuheben, wie toll die Idee der übergreifenden und ineinander verzahnten Beteiligungen aller Sparten an allen vier „Ring“-Teilen gewesen sei. Die Autorin Ulrike Hartung findet das so toll, dass sie sich und ihren Lesern sogar die rhetorische Frage stellt, „welchem Zweck die Trennung der Sparten überhaupt noch dient“.

Am Projekt beteiligt

Nun kann man auf der Website des Staatstheaters zur „Erweiterung des Ringgebiets“ nachlesen: „Begleitet und dokumentiert wird das gesamte Projekt von Dr. Ulrike Hartung vom Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth.“ Aha. Ach so. Na dann.

Sorry, aber das schmälert denn doch etwas unsere Mitfreude an dem Artikel. Natürlich kann eine Theaterwissenschaftlerin von einem Projekt restlos begeistert sein. Sie darf das auch öffentlich kundtun. Aber wäre es nicht ein Gebot der journalistischen Redlichkeit seitens der „Deutschen Bühne“ oder der Verfasserin selbst, ihre Beteiligung an dem Projekt kenntlich zu machen? Sind nicht Wissenschaftler ganz besonders der Seriosität verpflichtet?

Wagner-Wirrwarr

Nun haben ja auch wir vieles gewürdigt an diesem Projekt. Zum Beispiel die psychologisch vertiefenden Aktionen des Tanztheater-Ensembles in der „Götterdämmerung“. Auch sängerische Leistungen, über die Frau Hartung kein Wort verliert. Aber einiges hat sie auch übersehen wollen. Die Behauptung vom deutschen „Wagner-Wirrwarr“ erscheint ihrerseits wirr. Es gab zum Beispiel in Kassel oder Oldenburg überzeugende „Ring“-Zyklen aus einem Guss – in Kassel sorgte sogar ein Bürgerchor für echte Einbindung der Stadtgesellschaft in die Produktion.

Entscheidend scheint uns aber vor allem, dass es in Braunschweig insofern ein Wirrwarr war, als da hier teilweise gegen Wagner gespielt wurde. Der „Ring“ wurde hier laut Hartung nurmehr als „perfekte Folie verstanden, um sich auch am Geniebegriff abzuarbeiten“.

Gegen Wagner?

Braunschweigs Operndirektorin selbst hatte uns erzählt, dass junge Theaterschaffende zum Teil nichts mehr mit Wagner zu tun haben wollen. Folge: Eine patzig am Thema vorbeiposierende Jugendtheater-Produktion, die Wagner nicht einmal mehr thematisierte. Wer bekommt so Lust auf den „Ring“? Dazu eine Schauspiel-Produktion von Caren Jeß, die mit Rudimenten von Wagners „Walküre“ krude Späße trieb. Dazu ein karg distanziertes Ende der „Götterdämmerung“, als die Akteure aus der Rolle stiegen und Parolen an die Wände schrieben. Will man Wagner nun spielen – oder als theatrales No-Go der woken Generation abservieren? Diese Frage blieb letztlich unbeantwortet.

„Rheingold mit dem Wotan-Sänger Aris Agiris und der Schauspielerin Nina Wolf.
„Rheingold mit dem Wotan-Sänger Aris Agiris und der Schauspielerin Nina Wolf. © Thomas M. Jauk/StagePicture | thomas m. jauk

Auch die Sparten-Harmonie schien uns nicht immer so genial, wie Frau Dr. Hartung das sehen will. Ob die gesprochenen Texte im „Rheingold“ tatsächlich „nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch fantastisch organisch“ integriert wurden? Oder ob nicht einfach die Oper unterbrochen wurde und die Schauspieler gesprochen haben? Und ob das notwendig war, wo doch die Oper selbst all das Gesprochene thematisiert? Die Zuschauer haben das jedenfalls übers Jahr keineswegs „regelrecht gefeiert“, wie Frau Hartung meint. Oft eher das Gegenteil.

Musik eines anderen

Beim „Siegfried“ vom Tanztheater-Ensemble bedurfte es schon tiefschürfender Erläuterungen, um die Bewegungen überhaupt mit dem Inhalt der Oper zusammenzubringen. Die Musik war eh von Steffen Schleiermacher. Choreografisch mag das klug gedacht sein, nichts gegen die Leistungen der Akteure. Zu fragen wäre aber doch: Ist Tanz wirklich das geeignete Medium für so ein durch und durch erzählerisches Stück Musiktheater – zumindest für weniger Werkkundige, die man doch erreichen wollen sollte?

„Siegfried“ als Tanzstück.
„Siegfried“ als Tanzstück. © Staatstheater Braunschweig | Ursula Kaufmann

Und ob es ein Ausweis von Spartengerechtigkeit war, in der „Götterdämmerung“ einen Schauspieler mit Nietzsche-Schnauzer stumm über die Bühne trotten zu lassen? Wozu nochmal?

Fragen bleiben

Nichts gegen die Experimentierlust und Risikofreude des Theaters. Oder, wie Frau Dr. Hartung in akademischer Frische formuliert: „die grenzüberschreitende Suchbewegung nach innovativer Neuformatierung“. Aber gerade deshalb hätte es eine kritische Würdigung verdient statt einer Lobhudelei. Die Fragen, die Hartung sich doch zumindest mal hätte stellen müssen: Hat dieser extrem heterogene Zyklus das Verständnis von Wagners „Ring“ wirklich befördert? Hat das Werk uns noch etwas zu sagen, oder ist es nur noch als „Folie“ interessant? Oder, wie es an anderer Stelle heißt, als „Material“? Liegt in der Heterogenität nicht auch ein Risiko der Vierspartigkeit? Diese Fragen seien hier wenigstens nachgeholt.