Braunschweig. In Braunschweig und Wolfsburg feiert der deutsche Mainstream-Pop sich selbst. Die Resonanz ist überwältigend: Ein Grund zum Jubeln?

So viel Live-Popmusik wie in diesem Sommer war wohl noch nie in unserer Region. Das liegt natürlich vor allem an der Autostadt. Dort gaben und geben sich 22 Künstler und Bands die Klinke in die Hand. Vor allem die Stars des deutschen Mainstream-Pops. Zudem trat Bosse beim „Rocken am Brocken“ auf, Wincent Weiss beim „Live am Harz“ in Osterode. Am Wochenende folgen am Braunschweiger Raffteich unter anderem der nette Rapper Cro und Silbermond mit ihrer unverwüstlichen Frontfrau Stefanie Klos. Und dann kommen ja noch die Braunschweiger Festivals Kultur im Zelt und Trainside.

Es gibt für dieses Phänomen schon ein neues Wort. „Funflation“. Amüsieren wir uns zu Tode, wie der amerikanische Kulturkritiker Neil Postmann schon 1986 befürchtet hat? Schau’n wir mal.

Außer sich vor Glück

Viele Konzerte sind schnell ausverkauft, die Menschen total begeistert, beseelt, beglückt, entflammt, überwältigt. Jedenfalls fehlen derlei Adjektive in kaum einer Konzertbesprechung. Es legt sich ein lodernder Begeisterungs-Teppich übers Land. Darauf scheinen die Menschen zu glühen. Außer sich vor Glück.

So ein Konzert erscheint als kollektiver Rausch, die Fans kennen die Lieder, singen selig mit, folgen dankbar jeder Anweisung von der Bühne, zu hüpfen oder die Arme zu schwenken. Beim Großen Hauskonzert im Staatstheater lautete unsere Überschrift: „Jan Delay lässt Braunschweigs Theater erzittern“. Das war nicht übertrieben. Man musste ernstlich Sorge haben, dass die Ränge unter dem Getrampel nicht runterkrachen.

Bedingungslose Hingabe

Und wehe, du schreibt als Kritiker mal, ein Konzert sei „okay“ gewesen. Dann bescheinigen dir die Leute, dass du den Künstler nicht leiden kannst und völlig fehl am Platz warst. Die wahren Fans finden alles unterhalb der bedingungslosen Hingabe als Sakrileg.

Nun habe ich ja hier schon einmal die These vertreten, die Sänger würden sich das Grandiose solcher Konzerte in gewissem Maße selbst schaffen: „Es handelt sich um die Herstellung einer euphorischen Künstler-Publikum-Symbiose mittels Suggestion. Wobei die Euphorie nicht entsteht, sondern gleich am Anfang behauptet wird.“

Clueso in der Autostadt.
Clueso in der Autostadt. © Wolfsburg | Lars Landmann

Clueso etwa vermeint in der Autostadt bereits nach dem ersten Song eine ungeheure Energie zu spüren, die von einem einzigartigen Publikum ausgehe, schon ist er sich sicher, dass es ein unvergesslicher Abend sein wird. Eine Beschwörung. Er wird es am nächsten Tournee-Abend in Bottrop vermutlich nicht wesentlich anders formuliert haben. Aber egal.

„Du bist so schön“

Ebenfalls in der Autostadt: Johannes Oerding. Er forderte seine Gäste erstmal auf, mal die Nachbarin oder den Hintersteher zu begrüßen, per Handschlag oder auch Küsschen. Und seinem Partner zu sagen: „,Du bist so schön’, einfach so, auch wenn es gelogen ist“. Das hat was von Kirchentag, ist auch fragwürdig, denn natürlich wird das Kompliment im selben Atemzug komplett entwertet. Aber egal.

Johannes Oerding in der Autostadt.
Johannes Oerding in der Autostadt. © Wolfsburg | Helge Landmann

Wincent Weiss singt in Osterode zwei Lieder in pinkem Tutu, pinkem Hut und pinken Flügeln. Die Accessoires hatten ihm Fans in den ersten Reihen zuvor zugeworfen. Das wird man wohl infantil nennen können. Aber darum geht es nicht.

Dienstleistung

Es geht darum, den Eindruck zu vertuschen, zu veredeln, innig zu überstrahlen, dass hier jemand eine Dienstleistung abliefert für Menschen, die er nicht kennt, um Geld zu verdienen. Denn Live-Konzerte sind nun mal heutzutage die Haupteinnahmequelle von Musikern.

Oder gar, dass all das Teil der Kulturindustrie sein könnte, die aus Sicht des Philosophen Theodor W. Adorno dazu dient, den Konsumenten im kapitalistischen System am Funktionieren zu halten. Das Produkt Popkonzert als gut geöltes Rädchen in Adornos „Verblendungszusammenhang“?

Verschworene Gemeinschaft

Jein. Es geht trotz allem tatsächlich auch um: Liebe. Um eine verschworene Gemeinschaft der Verbündeten, ja, Verliebten auf und vor der Bühne. Bosse bringt es in unserem Interview am Brocken auf den Punkt: „Ich finde, Musik ist ja irgendwie Liebe.“ Dass Musik auch Gefühle wie Hass sehr gut transportieren kann, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Popkonzerte jedenfalls, so schlicht sie manchem mitunter auch erscheinen mögen, sind wohl wirklich ein Hort der überspringenden Liebe.

Ein zweiter Punkt, um das große Jubeln zu begreifen, ist: In den meisten Songs des deutschen Mainstreams geht es um eine trotzig-hedonistische Selbstbehauptung. Das Ich soll strahlen. Stärker sein als alle Widerstände. Soll sich ausleben. Sich nicht anpassen. Oder, um es mit dem unsterblichen Altrocker zu sagen: „Mach dein Ding!“

Sonne im Gepäck

Jan Delay rappt: „Ja, es sind finstere Zeiten/ Aber das muss gar nicht sein/ Lass uns die Wolken vertreiben/ Ich hab’ Sonne dabei/ Nur positive Vibes, Mann/ Mit ‘nem Bass und ‘nem Groove...“

Jan Delay im Braunschweiger Staatstheater.
Jan Delay im Braunschweiger Staatstheater. © Rüdiger Knuth | Rüdiger Knuth

Clueso singt gegen gesellschaftlichen Erwartungen an: „Alle wollen, dass ich ‘nen Baum pflanze oder ‘n Haus bau/ So dass sie auf mich zählen können wie ein Countdown“. Er schaut aber lieber wie ein moderner Taugenichts verantwortungsfrei aus der Achterbahn auf die Welt.

Johannes Oerding verschweigt nicht die Finsternisse des Lebens. Aber er hält dagegen: „Unsere Narben sind ‘n Leben lang zu sehen/doch irgendwann tut’s nicht mehr weh/ Dann ist es wieder okay, wieder okay, schon wieder okay...“

Realitätsflucht

Bosse hält in seinem neuesten Lied an den Träumen als Realitätsflucht fest – was freilich seit jeher ein Charakteristikum des Schlagers ist. Im Interview sagte er uns: „Musik zu hören, ist auch träumen. Man kann sich dahin träumen, wo man sich hinträumen möchte.“

Axel Bosse bei Rocken am Brocken.
Axel Bosse bei Rocken am Brocken. © Braunschweig | Daria Brabanski

So erscheint der Konzertreigen auch als große Ermutigung. Bei all den finsteren Realitäten, denen die von Corona gebeutelte junge Generation ausgesetzt ist, zunehmend von Depressionen und Einsamkeitsgefühlen heimgesucht, von digitalen Surrogaten umzingelt, von der Klimakrise bedrängt, vom Krieg mitten in Europa und der Aufrüstung verschreckt, ist doch dieses euphorische Zusammengehörigkeitsgefühl auf den Inseln des Popzirkus einfach schön.

Wunderbar tolerant

Sie schreiben keine Hassmails, sie kloppen keine Ausländer oder anders Liebende – denn dieser Zirkus ist wunderbar tolerant – und sie versinken nicht in Schwermut. Möge die Kraft dieses Sommers der Liebe möglichst nachhaltig sein.