Bayreuth. Erstmals virtuelle Welten im ehrwürdigen Festspielhaus: Faszinierendes Experiment mit Nebenwirkungen bei Wagners Bühnenweihespiel.

Weltpremiere – Vielleicht auch Weltsensation: Erstmals wird im Tempel der reinen Kunst und der dynastischen Traditionspflege auf dem Grünen Hügel der Bühnenraum mittels High Tech ins Imaginär-Unendliche erweitert. Eine sogenannte Augmented-Reality-Brille (AR) spielt dem Besucher von Richard Wagners Musikdrama „Parsival“ vor, nicht etwa nur im Festspielhaus zu hocken, sondern zugleich in eine fantastische Anderswelt einzutauchen. Ob diese technische Erweiterung der Bühnenillusion dem Meister gefallen hätte?

Vermutlich wäre er zumindest begierig gewesen, das Spielzeug auszuprobieren. Denn ihm konnte das Gesamtkunstwerk ja nicht total genug sein. Darf man vermuten. Bleibt natürlich die Frage: Wie sinnvoll, vertiefend, erhellend ist die virtuelle Erweiterung für den Gehalt des Werks? Man darf wiederum vermuten, dass der erlösungssüchtige Weltpoet Wagner an illustrativem Schnickschnack wenig Gefallen gefunden hätte. An dieser Schnittkante entlang hat unser Kritiker schlüssig abwägend argumentiert.

Da fliegt kein Schädel

Wenn man aber nicht zu den happy 300 Zuschauern mit Brille gehört, bleibt trotz aller Überwältigung auch ein herber Nachgeschmack. Die Überschrift unserer Besprechung lautete: „Im Zauberreich der fliegenden Schädel“. Und sie beginnt hochdramatisch: „Klingsors Speer schießt direkt von der Bühne auf dich zu, schwebt gebannt sekundenlang mit der Spitze direkt vor deinem Auge...“

Ohne Brille fliegt kein Schädel, schießt kein Speer. Die Speer-Szene ist so enttäuschend, dass man sich als Wagner-Amateur fragt: Wann schleudert er denn endlich? Da hat er aber längst.

Ohne Brille wird die Umwelttragödie nicht sichtbar

Das Grundproblem hier wie auch in anderen prägnanten Szenen scheint zu sein, dass in den Momenten, in denen das virtuelle Bild dominiert, auf der Bühne eben keine Aktivität sein darf, weil sich sonst zwei bewegte Bilder irritierend überlagern würden. Das gerät aber zum empfindlichen Manko der Real-Aufführung. Das wird sogar manchmal unfreiwillig komisch, wenn etwa alle Darsteller gebannt empor schauen, weil dort mit Brille ein Sternenhimmel erscheint, nicht aber im Festspielhaus.

Zu monieren wäre, dass hier nicht nur manche Effekte, sondern auch die Aussagekraft, der Zielpunkt der Regie der Brillen-Sensation untergeordnet werden. Die im dritten Akt den Bebrillten offenbar deutlich zutage tretende Umwelttragödie bleibt diffus. Zwar gibt es einen grünen See, aber ob der giftig ist, bleibt mutmaßlich. Zumal die Protagonisten ja hineinsteigen.

Der grüne Teich im dritten Akt
Der grüne Teich im dritten Akt © Bayreuter Festspiele | Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Schwerfällige Ritter-Riege

Da fliegt kein Plastikmüll durch die Gegend, da stromert kein hungriger Fuchs am Abgrund. Was bleibt, ist eine ramponierte Landschaft mit einem stählernen Monstrum, Mischung aus Panzerwagen und Urzeit-Reptil. Und eine Ritter-Riege, die schwerfällig auf die Bühne kraucht wie Überreste einer geschlagenen Armee. Auch dies ein suggestiver Interpretationsansatz.

Dennoch bleibt das Gefühl, als brillenloser Zuschauer zweiter Klasse zugunsten der technischen Innovation etwas lieblos durchgeschleust zu werden. Anders gesagt: Es ist logisch und auch in Ordnung, dass die Brillenträger einen Mehrwert haben. Aber dass dadurch umgekehrt die Brillenlosen einen Minderwert hinnehmen müssen, hätte Wagner wohl weniger gefallen.