Bayreuth. Durch Augmented-Reality-Brillen tun sich unter den Zuschauern die giftigen Seen der Metallgewinnung für Batterien auf.

Klingsors Speer schießt direkt von der Bühne auf jeden einzelnen Zuschauer zu, schwebt gebannt sekundenlang mit der Spitze direkt vor deinem Auge. Wenn du eine AR-Brille trägst, die das Geschehen auf der Bayreuther Festspielbühne virtuell erweitert bis in den Zuschauerraum. Da fliegen denn auch verdorrte Äste, Äxte, Totenköpfe, blutende Arme, Schmetterlinge, pumpende Herzen und Kobaltblöcke um dich herum, stürzen am Ende mit Klingsors Zauberreich auch die Wände des Festspielhauses über einem zusammen.

Jay Scheib ist mit seiner in die aktuellen Computerspielwelten ausgreifenden Neuinszenierung des „Parsifal“ der Schritt in eine erweiterte Realität gelungen. Es klappt alles mit den etwas schweren, wie eine dickere Sonnenbrille getragenen AR-Brillen im Festspielhaus. Die Dioptrien werden vorher eingestellt, nachher muss man nichts mehr machen, einfach nur den Kopf zu den Seiten, nach oben oder unten wenden, und da setzen sich die Installationen des Bühnenbilds, das man weiterhin in der Mitte sieht, fort. Zusätzlich ist der ganze Raum immer wieder mit Flugobjekten erfüllt.

Mit AR-Brille Illusion von Sternenraum

Das wirkt mit seinen Sternengalaxien zu Wagners mystisch von Welt- und Taganbruch erzählendem Vorspiel gleich erstmal ganz zauberhaft. Später sind Scheibs Fantasien über lange Phasen wenig vertiefend oder erhellend. Wenn Parsifal den Schwan schießt, schwebt ein solcher durch den virtuellen Zuschauerraum. Wenn Klingsor seine Blumenmädchen zur Verführung Parsifals ansetzt, wuchern die Blumen eher dekorativ aus den Sitzreihen. Selbst der riesige, malmende Totenschädel, der die Lust dem Tode weiht, ist nicht unbedingt originell. Vielleicht braucht es auch technisch noch etwas Zeit, bis aus solchen Flugobjekten ganze Visionen werden.

Und ohne AR-Brille sieht das Bühnenbild von Mimi Lien eher dürfig aus: Eine metallene Stele am See als Treffpunkt. Mit den alten Utensilien Abendmahl in beiderlei Gestalt feiernde Männer in langen Röcken unterm Strahlenkranz beim Gralskult. Später pinkes Happening mit den Blumenmädchen des Transvestiten Klingsor, das ist nicht sehr neu. Jordan Shanahan gibt dem gern knarzig gespielten Zauberer aber mal eine angenehme Stimme.

Unter einem der wüste Abgrund

Spannend dann der letzte Akt: Auf der Bühne ein grell schimmernder Lithium- und Kobaltsee, wie sie bei der Gewinnung der für Batterien nötigen Metalle entstehen und Wüsten und vergiftete Arbeiter hinterlassen. Batterien, wie sie auch für unsere AR-Brillen nötig sind. Verschulden überall. Die Bühnen-Wüste setzt sich für AR-Gucker auch unter den Zuschauerreihen fort, wir sitzen über dem Abgrund, auf dem ein einsamer Fuchs nach Fressbarem sucht. Ist aber alles verdorrt, Plastikflaschen und -tüten wirbeln im Raum. Parsifal zerschmettert den als Gral der Anbetung dienenden Kobaltstein, steigt mit Kundry in den See, Entsühnung, Entgiftung, neue Hoffnung? Zumindest für die AR-Gucker schwebt wieder die Gralstaube mit Gottes Segen durch den Raum.

In Klingsors Zauberreich versucht Kundry (Elina Garanca) Parsifal (Andreas Schager) zu verführen. Szenne aus dem 2. Akt der Neuinszenierung des „Parsifal“ durch Jay Scheib bei den Bayreuther Festspielen.
In Klingsors Zauberreich versucht Kundry (Elina Garanca) Parsifal (Andreas Schager) zu verführen. Szenne aus dem 2. Akt der Neuinszenierung des „Parsifal“ durch Jay Scheib bei den Bayreuther Festspielen. © Bayreuter Festspiele | Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Scheibs apokalyptische Bilder sind packend. Hier bekommt Wagners Kult von Schuld und Sühne einen umweltpolitischen Fokus. Mit Parsifal sucht und findet jeder Mensch seinen Weg in All und Erdenwüste. Scheib zeigt Herzeleides brennende Hütte aus dem alten Epos, wenn Parsifal vom Tod der Mutter erfährt. Es gibt kein Zuhause, kein Zurück ins Idyll mehr. Auch die Szene mit Kundry ist gut durchgestaltet, wenn Parsifal in ihrem Kuss die Liebe entdeckt, sich aber auch auf die Christuswunde des Amfortas besinnt. Andreas Schager gestaltet das außerordentlich vielschichtig, geht mit weicher Lyrik in die Erkundung, knallt seine Erkenntnis mit dramatischer Wucht hervor und findet fast ätherisch strahlende Töne, als er am Ende die Amfortas-Wunde schließt und neue Hoffnung in die Welt trägt.

Tastendes Dirigat

Elina Garanca als Kundry begeistert mit wohlig tiefer Grundierung, hat das gewisse erotische Schillern im gesungenen Lachen, viel Glut in der Stimme und gute Diktion, eine Charismatin in der Tradition Waltraud Meiers. Sehr expressiv singt Derek Welton den Amfortas aus, Georg Zeppenfeld ist als Gurnemanz nicht bloß Erzähler, er macht eingangs auch Erfahrung mit Kundry, weiß, wovon er singt. Da stört bloß der Videofilmer fürs Großbild.

Regisseur Jay Scheib mit einer Augmented-Reality-Brille im Zuschauerraum des Bayreuther Festspielhauses. Sie sind etwas schwerer als eine Sonnenbrille und werden auch warm, ermöglichen aber teils spannend erweiterte Perspektiven in den virtuellen Raum.
Regisseur Jay Scheib mit einer Augmented-Reality-Brille im Zuschauerraum des Bayreuther Festspielhauses. Sie sind etwas schwerer als eine Sonnenbrille und werden auch warm, ermöglichen aber teils spannend erweiterte Perspektiven in den virtuellen Raum. © dpa | Daniel Vogl

Dirigent Pablo Heras-Casado tastet sich eher vorsichtig an Wagners letztes Werk. Der erste Akt bleibt allzu brav, die Dynamik wird kaum ausgereizt. Erst die vortrefflichen Chöre bringen auch mal drängendes Forte, wenn sie nach dem Gral schreien. Auch neigt er zu Verlangsamungen und Pianissimi, an denen die Spannung abfällt, in den Zwischenspielen sollte das Blech schmerzlicher klingen. Er ist aber grundsätzlich kein Weiler, gibt dem Drama feinen Zug. Am Ende großer Applaus für ihn und die Singenden, die übliche Bravo-Buh-Teilung für eine erst im dritten Akt überzeugende Regie. Die Technik kann noch Furore machen, besonders bei jungen Leuten. Dazu braucht es dann mehr als 300 AR-Brillen und Karten-Zuschüsse - vielleicht via Crowdfunding bei Computer(spiel)herstellern?