Braunschweig. Mit AR-Brillen will Regisseur Jay Scheib in Bayreuth die Wirklichkeitserfahrung im „Parsifal“ erweitern. Wie Wagner es musikalisch tut.

Das Wort „Augmented Reality“ hätte Richard Wagner zwar sicher nicht benutzt, aber inhaltlich ging es ihm in seinem künstlerischen Schaffen um nichts anderes als „erweiterte Wirklichkeit“. Die Romantiker strebten nach Entgrenzung, und Wagners musiktheatralische Visionen waren auch nicht von dieser Welt. Ein vierteiliges Mammut-Opernwerk wie der „Ring des Nibelungen“ mit 16 Stunden Spieldauer war für den kommerziellen Opernspielbetrieb der Theater des 19. Jahrhunderts ungeeignet. Aber Wagner wollte eben die Grenzen des konventionellen Unterhaltungstheaters der alten Grand-Opéra und italienischer Buffo-Komödien sprengen.

Die ästhetische Revolution sollte auch politische Folgen haben, sein neu gebautes Festspielhaus in Bayreuth hatte die Form des demokratischen Amphitheaters der Griechen, nur mit Dach drauf, man war in Franken. Auch musikalisch und sängerisch sprengte er alle Maße und Harmonien: Bewunderten Opernfans seinerzeit virtuose Stimmen, Koloraturen und langgehaltene Spitzentöne, setzte er auf an der Sprechlinie orientierten Gesang, auch mal Schreie und Ausrufe: Das Drama, der Inhalt, die Botschaft sollte im Mittelpunkt stehen. Unendliche Melodie statt Da-Capo-Arie, teils freitonale Missakkorde in Dauerspannung etwa im „Tristan“, auch das war entgrenzend und für viele Hörer haltlos.

Dazu die szenischen Zumutungen der mythischen Stoffe: „Auf wolkigen Höhen“ tagen die Götter, unter Wasser schwimmen die Rheintöchter, und beim Umbau der Waldlandschaft zum Gralstempel im „Parsifal“ ist eine Wandeldekoration vorgesehen, während der alte Priester Gurnemanz seinem jungen Schützling Parsifal sagt: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“

Wie sollte man das darstellen zu einer Zeit, da man auch im 1876 vollendeten Bayreuther Festspielhaus noch mit Gaslicht arbeitete, Wolken und Wellen mit Gazevorhängen vorgetäuscht werden mussten und die Rheintöchter auf quietschenden Schwimmwagen angeschnallt auf- und niedergefahren wurden. Erst 1886 kam elektrisches Licht ins Haus. Lichtinstallationen bestimmten Wieland Wagners bahnbrechende Inszenierungen auf leergefegter Bühne im Neubayreuth der 50er und 60er Jahre. Das war die Entgrenzung ins Geistige. Materielle Verbildlichungen wie die den Segen spendende Gralstaube strich Wieland einfach.

Sterne strahlen ins Bühnenbild von „Tristan und Isolde“, inszeniert von Roland Schwab bei den Bayreuther Festspielen. Foto: Enrico Nawrat
Sterne strahlen ins Bühnenbild von „Tristan und Isolde“, inszeniert von Roland Schwab bei den Bayreuther Festspielen. Foto: Enrico Nawrat © dpa | Enrico Nawrath

Inzwischen gehören Lasertunnel wie in Harry Kupfers „Ring“-Inszenierung 1988 oder Videoüberblendungen wie in Tobias Kratzers aktuellem „Tannhäuser“ zur Normalität. Versuche, Wagner mit fantastischen Mitteln in die Realität zu überführen. Und in diesem Jahr nun also AR-Brillen. Manche frotzeln schon, das werde jetzt wohl Wagner für Nerds. Tatsächlich ist es ein auf der Hand liegender Versuch, Wagners Fantasien in den virtuellen Raum zu erweitern. Wagners Rätsel-Satz „Zum Raum wird hier die Zeit“ ist nur im Kosmischen oder Virtuellen zu verstehen.

Wichtig wird sein, wie Regisseur Jay Scheib die AR-Möglichkeiten einsetzt. Als er uns vor zwei Jahren den wegen Corona ausgefallenen „Siegfried“ in einer Fünf-Minuten-Fassung mit solchen Brillen erleben ließ, machte der Drache, der da virtuell durchs Festspielhaus flog, mächtig Eindruck. Unwillkürlich wollte man sich wegducken, wenn er auf einen zuschoss. Hier war man vermutlich näher an den Effekten von Computerspielen dran, die sich ähnlicher Mythen wie Wagner bedienen, ähnlich kompliziert übrigens in ihrer Handlung, und musikalisch, so war beim jüngsten Konzert des TU-Orchesters Braunschweig mit Computerspiel-Musik zu hören, sich durchaus an seine romantischen Kämpfe und Visionen anschließen, allerdings eher ins Übermächtige aufgeblasen, wo Wagner mit komplizierter Harmonik psychologische Differenzierung übt.

Eine diverse Künstlerschar entert in Tobias Kratzers „Tannhäuser“ das Festspielhaus (von links): Le Gateau Chocolat, Stephan Gould als Tannhäuser und Manni Laudenbach (Oskar).
Eine diverse Künstlerschar entert in Tobias Kratzers „Tannhäuser“ das Festspielhaus (von links): Le Gateau Chocolat, Stephan Gould als Tannhäuser und Manni Laudenbach (Oskar). © dpa | Enrico Nawrath

Wäre die AR hier nur eine optische Ausweitung quasi filmischer Art, könnte sie eben auch eine Erweiterung ins Spirituelle bringen, wie sie die „Parsifal“-Handlung nahelegt. In einer Ausstellung im Wagner-Museum war bereits 2018 nach den Theaterrevolutionen Richard und Wieland Wagners die Augmented Reality als nächste Möglichkeit substantiellen ästhetischen Fortschritts vorgestellt worden. Mit den AR-Brillen erlebte man, wie einem im Wortsinn der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wie Räume sich verwandelten, einen aus einer bekannten in eine ungeahnte Realität wirbelten, man tatsächlich ins Taumeln geriet. So könnte man das physische Erlebnis von Parsifals Irrfahrten miterleben, das einen ja auch psychisch verstört. Und so könnte, ich denke da immer an den Clash der Kultur-Hotspots im Vorspann der Serie „Big Bang Theory“, das Raum-Zeit-Bewusstsein wie in Wagners Dichtung neu erfahrbar werden: „zum Raum wird hier die Zeit“.

Scheib, der in Amerika ein Meat-Loaf-Musical inszeniert hat - dessen Komponist ebenso von Wagner inspiriert war -, will laut Interviews in der AR nun virtuell die Mauern krachen lassen, das würde passen zu Klingsors Zauberturm, der von Parsifal mit einem Handstreich zerstört wird. Er wolle aber auch Gurnemanz‘ Träume, die Visionen Parsifals und Kundrys, der verzauberten Gralsbotin, ausspinnen. Auch das klingt gut, denn Wagners Musik eröffnet immer mehr Dimensionen, als ein Bühnenbild zeigen kann, und gerade die verschiedenen Erlebnisperspektiven Kundrys und Parsifals auf das Geschehen zu sehen, könnte spannend sein.

Nur 330 von knapp 2000 Zuschauern können in diesen Genuss kommen. Festspielleiterin Katharina Wagner hatte ursprünglich Brillen für jeden Zuschauer anschaffen wollen, das wurde dann doch zu teuer. Den Aufbruch zu neuer Ästhetik zu wagen, ist trotzdem richtig, hoffentlich klappt es, und hoffentlich genügt Scheibs Konzept dem Anspruch. Das wird die Premiere am 25. Juli zeigen. Die insgesamt teurer gewordenen Festspielkarten, mit Brille nochmals um 80 Euro erhöht, bremsen freilich genau das (jüngere) Publikum aus, das für solche Experimente vielleicht offener wäre als die geldkräftigen Zuschauer. Vor Pauschalisierung sollte man sich hier allerdings hüten. Tobias Kratzers revolutionärer „Tannhäuser“ mit einer hochdiversen Künstlerschar, die das Festspielhaus per Leiter entert, wird ja durchaus gefeiert, und Valentin Schwarz‘ deprimierender „Ring“ ist - trotz des guten Ansatzes der verlorenen Kinder - nicht nur für „Alteingesessene“, wie das dann immer heißt, misslungen.

Wenn die Mäzene der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth künftig weniger unterstützen können, verschlimmert das das Problem sozialverträglicher Eintrittspreise. Die vergünstigten 90-Euro-Tickets des Programms „Bayreuth for Starters“ für Unter-25-Jährige sind eigentlich der richtige Weg, nur bräuchten sie ihrerseits Sponsoren, sonst gefährden sie die hohe Eigenfinanzierung des Festivals.

Allen wäre im Übrigen gedient, wenn nicht nur der Dirigentinnen-und-Dirigentenpool größer würde, sondern auch der Sängerinnen-und-Sängerpool. Wenn immer weniger Sänger immer mehr Partein singen, sind doch Absagen vorprogrammiert. Dabei gibt es strahlenden Nachwuchs wie die Braunschweiger Brünnhilde Allison Oakes oder den Kasseler Siegfried Daniel Brenna.

Die Bayreuther „Parsifal“-Premiere wird am 25. Juli auch zeitversetzt ins Braunschweiger Astor-Kino übertragen.