Meinersen. Kateryna Tkachenko kam kurz nach Kriegsbeginn nach Deutschland. Dann gewann sie ein Stipendium und entschied sich, einen Neustart zu machen.

Dunkle, schokoladenbraune Locken umrahmen ihr Gesicht. Mit ebenso braunen Augen blickt Kateryna Tkachenko etwas melancholisch in die Kamera. Auf ihrem Instagram-Profil präsentiert sie sich quirlig und offen - aus verschiedensten Perspektiven, mit unterschiedlichen Frisuren und schrägen Filtern. Beim Treffen in Meinersen wirkt sie allerdings eher schüchtern und ruhig. Die 21-jährige Künstlerin lebt dort seit knapp zwei Monaten im Künstlerhaus. Nach Deutschland gekommen ist die Ukrainerin im März 2022 - kurz nach Kriegsbeginn.

Innerhalb weniger Stunden hat sich mein Leben um 180 Grad gedreht.
Kateryna Tkachenko, Stipendiatin im Künstlerhaus Meinersen

Als Russland den Angriff gegen die Ukraine startete, war Tkachenko noch in Kiew. Dort studierte sie seit 2019 Marketing und Werbung im Bachelor. „Ich habe damals im Wohnheim gewohnt. Wir haben uns abends alle versammelt und gemeinsam die Nachrichten geschaut. Am nächsten Tag sind alle weggegangen. Manche sind zu ihrer Familie oder Verwandten gegangen, manche haben das Land verlassen - niemand wusste, welche Entscheidung die beste war. Ich habe mich entschieden, zu Verwandten in Essen zu gehen. Innerhalb weniger Stunden hat sich mein Leben um 180 Grad gedreht.“

An der polnischen Grenze musste die junge Frau 15 Stunden warten, bevor sie weiter konnte. Es sei Nacht gewesen und sehr kalt: „Es war mühsam, aber die Menschen in Polen waren sehr nett zu uns. Als ich in Deutschland angekommen bin, war ich sehr ruhig“, berichtet die Ukrainerin. Ihre Eltern seien nicht mitgekommen, Geschwister habe sie nicht: „Ich bin alleine hergekommen“, sagt sie. Abgesehen von ihrer Tante, die schon jahrzehntelang in Essen wohne, sei ihre ganze Familie noch in der Ukraine. Als Tkachenko bei ihrer Tante angekommen war, konnte sie beginnen, sich ihr Leben neu aufzubauen: Sie habe viel gemalt - auch, um nicht dauernd an den Krieg denken zu müssen.

Am liebsten malt sie mit einfachen Kugelschreibern: Kateryna Tkachenko in ihrem Atelier in Meinersen.
Am liebsten malt sie mit einfachen Kugelschreibern: Kateryna Tkachenko in ihrem Atelier in Meinersen. © FMN | Anna Lucy Richter

Schon von klein auf eine Künstlerin

Zu malen oder zu zeichnen habe ihr aber schon gefallen, seit sie denken kann. Von Kindesbeinen an ging sie zu Kunstschulen in ihrer Heimatstadt Odessa. „Meine Abschlussarbeit der Kunstfachschule waren Kugelschreiber-Zeichnungen von einem Flohmarkt“, so die 21-Jährige. „Die Leute dort verkaufen Gegenstände aus ihrer Vergangenheit – was sie dabei fühlen, versuche ich, auf das Papier zu übertragen.“ Mit Kugelschreibern oder ähnlichen Stiften arbeitet sie immer noch gerne. Er sei so ein einfaches Werkzeug, und wenige Menschen benutzten ihn, um Kunst zu erschaffen, findet sie. „Die meisten schreiben mit einem Kugelschreiber, aber kaum jemand malt damit.“

Im Künstlerhaus lebt die junge Frau nun für etwa ein Jahr. Sie hat das Stipendium der Bösenberg-Stiftung gewonnen, wodurch ihr Aufenthalt finanziert wird. Die Künstlerin bewohnt eine von drei Wohnungen mit Atelier in dem Haus in Meinersen. „Die Künstler leben und arbeiten hier“, erklärt Rienelt Walkhoff, stellvertretende Vorsitzende des Künstlerhaus-Meinersen-Vereins. Tkachenkos Stipendium ist mit 10.000 Euro dotiert, wovon auch ihre Lebenskosten im Künstlerhaus gedeckt werden.

Die Bewohner des Künstlerhauses Meinersen und Stipendiumgeber sowie Mitglieder des Künstlerhaus-Vereins, die deren Aufenthalt möglich machen (von links): Kateryna Tkachenko, Dirk Bösenberg, Stipendiatin Anja Warzecha, Geschäftsführerin Barbara Haferkamp-Weber, künstlerischer Leiter Jochen Weise und stellvertretende Vorsitzende Rienelt Walkhoff.
Die Bewohner des Künstlerhauses Meinersen und Stipendiumgeber sowie Mitglieder des Künstlerhaus-Vereins, die deren Aufenthalt möglich machen (von links): Kateryna Tkachenko, Dirk Bösenberg, Stipendiatin Anja Warzecha, Geschäftsführerin Barbara Haferkamp-Weber, künstlerischer Leiter Jochen Weise und stellvertretende Vorsitzende Rienelt Walkhoff. © FMN | Anna Lucy Richter

Schwierige Entscheidung, nach Meinersen zu ziehen

„Als ich die Nachricht bekommen habe, dass ich das Stipendium bekommen habe, habe ich erstmal meine Mutter angerufen“, sagt Tkchenko und lacht. Die Entscheidung, für ein Jahr nach Meinersen zu ziehen, sei ihr nicht leicht gefallen: „Ich habe zu dem Zeitpunkt etwas mehr als ein halbes Jahr in Essen gewohnt. Mein neues Leben hatte ich gerade angefangen, richtig aufzubauen. Meine Freunde, meine Wohnung, alles zurückzulassen und schon wieder von vorne zu beginnen - das war schwierig.“

Künstlerhaus Meinersen

Drei Atelier-Wohnungen, ein Gästezimmer, zwei Hallen für Ausstellungen und eine Bibliothek gibt es im Künstlerhaus Meinersen. Dort kommen jeweils zwei Stipendiaten gleichzeitig unter, die ein Jahr im Haus leben und arbeiten. Im Anschluss findet eine Ausstellung ihrer erschaffenen Werke statt. Zuletzt lebte Anja Warzecha als Stipendiatin im Künstlerhaus, deren Ausstellung zahlreiche Werke zum Thema „A Sense of Place“ zeigte.

Die Stipendien vergeben die Bösenberg-Stiftung, die Landkreis-Gifhorn-Stiftung und die Samtgemeinde Meinersen jeweils abwechselnd, sodass jedes Jahr ein junges Künstlertalent in Meinersen leben kann. Den Aufenthalt der Künstlerinnen und Künstler organisieren Mitglieder des Künstlerhaus-Meinersen-Vereins ehrenamtlich. In der dritten Atelier-Wohnung wohnt Vereinsmitglied Jochen Weise, der die künstlerische Leitung des Hauses übernimmt. Er selbst war im Jahr 1990 einer der ersten Stipendiaten im Künstlerhaus.

Aktuell ist auch die Sommerakademie, die jedes Jahr im Künstlerhaus stattfindet. Dort können Kunstschaffende eine Woche lang verschiedene Workshops besuchen und Kontakte in der Kunstszene knüpfen. Die erstellten Werke werden am Sonntag, 16. Juli, von 11 bis 14 Uhr im Künstlerhaus ausgestellt.

Bisher bereue sie ihre Entscheidung aber nicht. „Hier kann ich mich in Ruhe auf meine Arbeit konzentrieren“, meint Tkachenko. Sie möchte in Meinersen außerdem ihre Deutschkenntnisse verbessern. Über ihre Ausstellung hat sie schon begonnen nachzudenken: „Ich möchte die Emotionen von Leuten einfangen“, erzählt sie, dafür will sie eine Porträtgalerie anlegen. Unterwegs mache sie schnelle Skizzen von den Personen, die sie auf der Straße sieht. Im Atelier vervollständigt sie diese. „Früher habe ich immer in kleine Notizbücher gemalt. Jetzt versuche ich, größere Formate zu verwenden.“

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