Wolfsburg. Überraschend teilte der Aufsichtsrat das Ende der Zusammenarbeit mit. Im Hintergrund soll es schon längere Zeit gebrodelt haben.

Ausgerechnet im Coronajahr 2020 übernahm Dirk Lattemann die Intendanz des Wolfsburger Scharoun-Theaters von seinem Vorgänger Rainer Steinkamp. Als gebürtiger Wolfenbütteler mit Erfahrungen als Schauspieler und in der Veranstaltungsbranche erschien er als perfekte Wahl für den Posten an der dramaturgischen Spitze eines der renommiertesten Gastspieltheater Deutschlands. „Mit viel Vorfreude“ starte er ins Amt, sagte er unserer Zeitung im Juni 2020.

Jetzt, drei Jahre später, ist Lattemanns Amtszeit schon wieder vorbei. Über die Hintergründe ist am Montag kaum offizielles zu erfahren. Laut der Pressemitteilung des Aufsichtsrates trennte man sich jedenfalls in gegenseitigem Einvernehmen. Hinter den Kulissen ist aber von monatelangen Unruhen zu hören.

Leserinnen und Leser lieferten sich Schlagabtausch zur Ausrichtung des Theaters

Die erreichten auch unsere Zeitung. Erst kürzlich hatte Lattemann eine Kooperation mit dem Berliner Ensemble angekündigt, die unter anderem gemeinsame Produktionen sowie ein bis zwei Gastspiele des Berliner Hauses in Wolfsburg vorsieht. Im Interview hatte Lattemann dazu gesagt, dass Wolfsburg als Bestandteil des ländlichen Raums in der Vergangenheit manchmal den Themen der Bühnen in Berlin oder München ein paar Jahre hinterher gewesen sei.

Das stieß einigen Leserinnen oder Lesern offenbar übel auf, denn kurz nach der Veröffentlichung des Interviews erreichte unsere Redaktion ein anonymer Leserbrief, unterzeichnet mit „Die Theaterfreunde“, in dem Lattemanns Stil deutlich kritisiert wird. Unter anderem werfen die Schreibenden dem scheidenden Intendanten vor, nicht auf die Wünsche des Publikums zu achten und die Verdienste seiner Vorgänger geringzuschätzen.

Im Hintergrund ist ein Graben im Publikum entstanden

Unsere Redaktion entschied sich dazu, den Leserbrief nicht zu veröffentlichen. Anonyme Leserbriefe werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Offensichtlich erreichte der Brief aber auch andere Adressaten, denn in der Folge erhielt unsere Zeitung gleich mehrere Leserbriefe, in denen die Schreibenden die Arbeit von Dirk Lattemann außerordentlich loben.

Aus den Informationen, die unserer Zeitung vorliegen, kristallisiert sich heraus: Es hat den Anschein, dass sich über die vergangenen Monate Lager im Publikum herausgebildet haben. Wohl geht es dabei um die künstlerische Ausrichtung des Scharoun-Theaters. Während die einen die neuen Impulse von Dirk Lattemann hin zu einem modernen, zeitgenössischen, gar progressiven Theater begrüßen, fühlen sich andere Teile des Publikums nicht mitgenommen. So richtig raus mit der Sprache will aber kaum jemand.

Aufsichtsrat: Debatte über künstlerische Ausrichtung spielt keine Rolle

Angesprochen auf den sich abzeichnenden Graben im Wolfsburger Theaterpublikum sagt Aufsichtsratsvorsitzender Thomas Steg auf Nachfrage klar: „Daran liegt es nicht.“ Es hätten „keine künstlerischen Gründe“ dazu geführt, dass Lattemann nun sein Amt niederlegt.

Welche Gründe tatsächlich dazu führten, ist aus Theater und Aufsichtsrat jedoch auch nicht zu erfahren. In der Pressemitteilung steht schlicht: „Nach Ablauf der Spielzeit sind wir nach einer gemeinsamen Analyse zu dem Ergebnis gekommen, mit Blick auf die Erwartungen zur künftigen Entwicklung des Scharoun-Theaters die Zusammenarbeit nicht fortzusetzen.“

Kulturausschuss-Vorsitzende: Zeitpunkt „außerordentlich unglücklich“

Sandra Straube ist Vorsitzende des Wolfsburger Kulturausschusses und Kommunalpolitikerin der Partei PUG. Sie kritisiert gegenüber unserer Zeitung den plötzlichen Weggang des Intendanten. „Ich bin sehr überrascht“, sagt sie, und: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Wolfsburger das neue Programm von Dirk Lattemann besser angenommen hätten.“ Als regelmäßige Theaterbesucherin habe ihr das moderne Programm in Wolfsburg zuletzt sehr gefallen. „Eigentlich hat Lattemann erst jetzt seine erste richtige Nach-Corona-Spielzeit“, so Straube, „es wäre schön gewesen, die wenigstens noch abzuwarten.“

Den Zeitpunkt der Trennung nennt sie „außerordentlich unglücklich“, da ausgerechnet jetzt die Spielzeit zum 50-jährigen Jubiläum des Theaters bevorsteht. „Das ist schlechter Stil.“ Sie hätte einen offeneren Diskurs besser gefunden, denn: „Wenn man nicht ins Gespräch geht, kann man auch nichts ändern.“

SPD-Kulturbeauftragte: Intendant hat ganzes Publikum mitgenommen

Aufsichtsratsmitglied und SPD-Kulturbeauftragte Iris Schubert betont an dieser Stelle ein weiteres Mal die Haltung des Aufsichtsrates, dass die inhaltliche Orientierung des Theaters nicht zur Debatte stehe. „Der Intendant ist frei in seiner künstlerischen Ausgestaltung.“ Es gehöre zu seinen Aufgaben, Dinge auszuprobieren und auch mal zu provozieren.

In ihrer Rolle als Kulturbeauftragte und Theatergast sagt Iris Schubert: „Auch ich habe die Publikumsmeinungen wahrgenommen“, sagt sie, „und ich bin der Meinung, dass man das ganze Publikum mitnehmen muss, ältere wie jüngere Zielgruppen. Und ich denke schon, dass Dirk Lattemann dieses Ziel erreicht hat.“

Aufsichtsrat: Besucherzahlen haben sich erfreulich entwickelt

Reaktionen auf den plötzlichen Weggang des Wolfsburger Intendanten liefen am Montag in unserer Redaktion ein. Oliver Reese vom Berliner Ensemble äußerte sich bestürzt über das Ende Lattemanns Intendanz. „Ich bedauere außerordentlich, dass Dirk Lattemann das Scharoun-Theater Wolfsburg nicht weiterhin leiten wird und so kurzfristig verlässt.“ Er schätze den scheidenden Intendanten sowohl beruflich als auch privat; nichtsdestotrotz hoffe er, die Kooperation wie geplant weiterführen zu können.

Oberbürgermeister Dennis Weilmann dankte Lattemann in einem Statement. „Corona hat den Theaterbetrieb ganz besonders erschwert, für einige Zeit sogar komplett zum Erliegen gebracht. Dennoch hat er, wie man anhand des aktuellen Theaterprogramms erkennen kann, gute und wichtige Impulse setzen können.“ Vorsitzende Dorothea Frenzel teilte für den Theaterring mit, man bedaure die Entwicklung und zolle Lattemann Respekt für die erbrachte Leistung. Die Trennung im Einvernehmen „eröffnet allen Beteiligten die besten Chancen für die Zukunft und vermeidet unnötige Imageschäden der beteiligten Personen und Institutionen.“

Zumindest eine Möglichkeit lässt sich am Montag relativ sicher ausschließen. An mangelnden Besucherzahlen scheint es nicht zu liegen, dass das Theater nun einen neuen Intendanten oder eine neue Intendantin sucht. „Wir stehen aktuell bei 80 Prozent der Besucherzahlen aus Vor-Corona-Zeiten“, sagt Aufsichtsratschef Thomas Steg. Das sei im Kontext als gute Entwicklung zu bewerten. „Mit so einem guten Ergebnis hatten wir noch nicht gerechnet.“