Wolfenbüttel. Die Songschreiberin (28) verblüfft mit flottem Indie-Pop voller Widerhaken. Was sie vor ihrem Auftritt beim Summertime-Festival Wolfenbüttel verrät.

Mitten in Wolfenbüttel, im sattgrünen Seeliger-Park, steigt am 9. und 10. Juni das Summertime-Festival. In den vergangenen Jahren hat es sich zu einer attraktiven Bühne für die junge deutsche Indie-Pop-Szene entwickelt. In diesem Jahr sind vielversprechende Bands und Künstler wie Raum 27, Kytes, Razz – und Mia Morgan dabei. Die 28-jährige Sängerin und Songschreiberin aus Kassel lässt mit charmant produzierten Pop-Ohrwürmern und so poetischen wie provokanten Texten aufhorchen. Wir sprachen mit ihr über psychische Probleme, männliche Macht und den Schönheitskult in Sozialen Medien.

Man sagt, dass Kunst oft aus persönlichen Problemen heraus entsteht, dass Unglücklichsein ein Motor für Kreativität ist. Kannst du das unterschreiben?

Nee, eigentlich nicht.

Ich frage das, weil man auf Wikipedia liest, dass du früher mit Depressionen und Magersucht zu kämpfen hattest...

Das stimmt nur bedingt. Ich hatte als Jugendliche zwar Depressionen. Das ist heute aber kein Thema mehr. Ich habe eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die geht zwar oft mit Traurigkeit und Verzweiflung einher, aber eben auch mit sehr glücklichen Phasen. Natürlich sind manche meiner Songs von Herzschmerz, zerbrochenen Freundschaften oder traumatischen Erfahrungen aus meiner Jugend inspiriert. Aber wenn es mir richtig schlecht geht, kann ich auch keine Kunst machen. Es muss eine gewisse Grundfestigkeit da sein, und die habe ich nur, wenn ich emotional auf der Höhe bin.

„Die Störung ist Teil meiner Persönlichkeit, aber sie macht mich nicht aus“

Du gehst offen mit deinen psychischen Problemen um, etwa im Podcast „Mental Mall“, den du zusammen mit dem Musiker-Kollegen Search Yiu betrieben hast. Deine Borderline-Symptomatik, sagst du dort, würdest du nicht mehr so negativ als Krankheit beschreiben, sondern versuchen, sie positiv zu sehen...

Positiv ist zu viel gesagt. Starke Stimmungsschwankungen und übergroße Sensibilität sind schon belastend. Aber ich habe nach langer Therapie rausbekommen, welche Einflüsse mich triggern, und was ich tun kann, damit es mir besser geht. Ich verstehe mich selber einfach viel besser. Ich würde nicht sagen, dass es cool ist, Borderlinerin zu sein, aber ich muss das Beste daraus machen. Und ich bin ja auch viel mehr als das. Ich bin nicht nur die Mia, die psychische Probleme hat, sondern Musikerin, ich schreibe Texte, fotografiere, interessiere mich für Mode. Die Störung ist Teil meiner Persönlichkeit, aber macht mich nicht aus.

Du hast 2019 deinen ersten Song „Waveboy“ herausgebracht, der gleich ein Indie-Hit wurde und dich in der Szene schlagartig bekannt machte. Da warst du schon 25. Warum kam dein musikalisches Debüt vergleichsweise spät?

Ach, was heißt spät? Ich habe mich aber tatsächlich mit der Frage beschäftigt, aufgrund von weiblichen Komplexen und der Verinnerlichung patriarchalischer Strukturen, in denen Frauen immer gesagt wird, dass sie zwischen 17 und 30 so eine gewisse Blütezeit haben, bis sie dann verblassen und sich zurückziehen sollten. Was für ein Quatsch. Es gibt viele Künstlerinnen, die gar nicht so jung debütiert haben. Debbie Harry war schon über 30, als sie mit Blondie groß rauskam. Cyndi Lauper hat „Girls Just Want to Have Fun“ mit 30 herausgebracht. Damals durfte sie niemandem sagen, wie alt sie ist. Klar gibt es auch sehr junge Künstler, die krasses Talent haben und tolle Songs schreiben. Aber ich hatte damals eben nicht die Kapazität und die Verbindungen, mit meiner Musik herauszukommen – bis ich irgendwann gedacht habe, jetzt versuche ich es einfach mal.

„Meine Texte zielen nicht darauf ab, von betrunkenen Festival-Gängern mitgegrölt zu werden“

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Wie hast du deine ersten Songs produziert? Du hattest damals ja noch keine Band im Rücken.

Meine Demos mache ich bis heute im Alleingang an meinem Laptop. Damals habe ich sie mit der freien Software Audacity produziert. Ich hatte von meinem verstorbenen Opa so ein uraltes 70er-Jahre-Keyboard, eine Akustik- und eine E-Gitarre – und als Percussion Tupper-Boxen. Das hat gereicht fürs Erste.

Auf Songs wie „Waveboy“ oder „Gothgirl“ grenzt du dich spielerisch von angesagten Poptrends wie Trap und Deutschrap ab und beziehst dich auf die 80er Jahre. Woher kommt diese Prägung?

Meine Eltern waren in den 80ern Teenager. Und so wie meine Generation jetzt nostalgisch die Musik der 2000er hört und meint, 2010 war der Gipfelpunkt der Popmusik, so ging das meinen Eltern mit der Musik ihrer Jugend. Also bin ich damit groß geworden. Mein Vater ist riesiger Falco-Fan, meine Mutter liebt Depeche Mode, auch die Ärzte waren immer präsent. Mein Papa hat am Wochenende die Stereoanlage bedient, und ich habe mit meiner Mutti dazu getanzt.

Du kombinierst eingängige Melodien und Beats mit eindringlicher, provokanter, manchmal auch schmerzvoller Poesie. Ist Pop nur eine schöne Verpackung, oder ist es einfach deine Musik?

Ich mag Pop. Ich bin ja auch nicht die einzige Künstlerin, die so arbeitet. Ich finde es interessant, Gegensätze zu verbinden und poppige, süße, ein bisschen rockige Nummern mit Texten zu kombinieren, die nicht in erster Linie darauf ausgelegt sind, von betrunkenen Festival-Gängern mitgegrölt zu werden.

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„Immer unter dem Einfluss von männlicher Macht“

Auf deinem aktuellen Album „Fleisch“ gibt es Songs, die wie feministische Manifeste wirken. In „Segen“ etwa singst du „Wie ich mich definiere / meinen Körper inszeniere / und mich online präsentiere (...) mich radikal selbst akzeptiere / das könn’n sie nicht zensieren“. Und: „Wir wissen, was kein Mann auf dieser Erde weiß“. Ist Feminismus Teil deiner Pop-Mission?

Ja. Aber als weiße Frau in einer dann doch privilegierten Position würde ich mir nicht anmaßen, als Galionsfigur aufzutreten. Ich habe „Segen“ vor allem für mich selbst geschrieben, um festzuhalten, wie es war, als Mädchen immer unter dem Einfluss von männlicher Macht aufzuwachsen und aufgrund des Körpers objektiviert, bewertet und diskriminiert zu werden. Es macht mich glücklich, dass der Song bei anderen Anklang findet und sie bestärkt, zu sich selbst und ihre eigene Frau zu stehen.

Im Song „Schönere Frauen“ beschreibst du das Leben als einzigen Schönheitswettbewerb: „Des einen Kokain ist für mich / Fleisch in Symmetrie“. Das Fazit des Textes ist: Weil sich alle so sehr nach Schönheit sehnen, ist Liebe unmöglich, denn es gibt immer eine(n) noch Schöneren. Ist das Ernst, Ironie oder pure Verzweiflung?

Der Text ist die lyrische Überspitzung eines Gefühls, das wahrscheinlich jeder Mensch schon hatte. Wir sind visuelle Wesen. Natürlich kommt es in the long run auf die inneren Werte an. Aber wenn man wirklich ehrlich ist – zuerst schaut man. Und das ist auch okay, denn wir haben alle komplett unterschiedliche Vorstellungen davon, was schön ist. Die Person, die ich für den schönsten Menschen der Welt halte, schaut zuhause wahrscheinlich in den Spiegel und denkt sich, es gibt so viele schönere Leute als mich. Schönheit ist so facettenreich, dass es niemals dazu kommen wird, das Ideal zu erlangen, nach dem man sich verzehrt.

„Ich kreiere im Internet nichts, was ich in der Wirklichkeit nicht repräsentieren kann“

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Aber deshalb ist der Schönheitskult ja auch eine Gefahr. Du inszenierst dich selber kunstvoll auf in Sozialen Medien wie Instagram. Warum sind dir visuelle Präsenz und Selbstdarstellung so wichtig?

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass ich als Jugendliche gemobbt wurde und das Bedürfnis hatte, der Welt zu zeigen, ich bin jetzt happy mit mir. Ich bin mit Netzwerken wie Tumblr aufgewachsen, wo zahllose Girls Fotos von sich gepostet haben. Dahinter steckt der Wunsch, wahrgenommen zu werden und sich so zu zeigen, wie man gesehen werden will. Früher hat man sich eben für die Disko das neueste Outfit angezogen, heute macht man es im Netz. Da hat man mehr Kontrolle darüber, welches Bild von sich man in die Welt schickt. Das kann sehr schön sein – und es macht auch einfach Spaß.

Es erzeugt aber auch Druck, eben weil sich alle von der vorteilhaftesten Seite zeigen. Das findest du nicht weiter problematisch?

Nein. Man muss für sich selber entscheiden, ob man sich wohlfühlt, wenn man Bilder so stark bearbeitet, dass sie gar nicht mehr aussehen wie die reale Person. Aber das tue ich nicht. Und wenn es jetzt eine Person auf der Welt gibt, die mich total hübsch findet und sich grämt, weil sie nicht so aussieht – dann kann ich nicht wirklich etwas dafür. Genauso wenig kann Kylie Jenner etwas dafür, wenn die Leute sich danach verzehren, so auszusehen wie sie. Sie könnte ihre Fotos natürlich weniger krass bearbeiten, um ein realistisches Bild von sich zu vermitteln. Aber ich finde es schwierig, Menschen zu verurteilen, die so etwas tun, denn dahinter stecken ja oft große Unsicherheiten. Und dann gibt es auch wieder Leute, die solche Bearbeitungen aufdecken. Ich versuche, im Internet nichts zu kreieren, was ich in der Wirklichkeit nicht repräsentieren kann.

Vorwürfe gegen Till Lindemann – „Ich bin absolut solidarisch mit den Frauen“

Aktuell wühlen Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann die Musikszene auf, er habe sich über Jahre junge weibliche Fans zuführen lassen, die zum Teil unter Drogen gesetzt worden seien. Was löst das bei dir aus?

Würdest du diese Frage auch männlichen Interviewpartnern stellen?

Derzeit ja.

Okay. Ich finde es schrecklich, es macht mir Angst, und ich habe großes Mitleid mit Frauen, denen so etwas passiert ist. Ich hoffe, dass sie ein Umfeld haben, das ihnen die Hilfe zukommen lässt, die sie brauchen. Ich bin absolut solidarisch mit ihnen und wünsche unbedingt, dass so etwas nicht mehr möglich ist.