Braunschweig. Drei Regisseurinnen und ein Choreograph beenden den Mehrsparten-„Ring“ am Staatstheater Braunschweig mit der „Götterdämmerung“

Der scharf intonierte Bläserakkord zu Beginn geht einem erst mal durch Mark und Bein: Als wollte Wagner einem die Schmerzen der vergangenen drei Teile seines Welt-Mythos vom „Ring des Nibelungen“ in Erinnerung rufen. So startet der letzte Teil, die „Götterdämmerung“, auf einem Haufen von Krieg und Verrat, auf geplatzten Visionen und erstickten Versuchen freier Liebe. Die Nornen, Schicksalsgöttinnen, zählen es nochmal auf, und Srba Dinic am Pult des gespannt spielenden Staatsorchesters gibt den Erzählungen klare Kontur.

Ekaterina Kudryavtseva, Solgerd Isalv und Marlene Lichtenberg artikulieren sie deutlich in den leeren Raum, in dem sie langsam wie Planeten ihre Bahn ziehen. Tänzerinnen und Tänzer der Braunschweiger Compagnie erzeugen zwischen ihnen in Paarfiguren Assoziationen von frischer Liebe oder Machtausübung. Eine starke Ergänzung.

Gesellschaft unter Spannung

Tanz ist eigentlich das ideale Ausdrucksmittel der psychologischen Untergründe des Mythos, weil er einerseits körperlich konkret wird, andererseits eine kreatürliche Abstraktion des Realen ist. Choreograph Gregor Zöllig findet da packende Bilder, etwa wenn nach dem paarweisen Freestyle alle Tanzenden mit den Nornen eben jenes „Seil“ gesellschaftsformender Kontinuität bilden, das unter individuellen Strapazierungen und Aggression nach allen Seiten in Spannung gerät und letztlich reißt.

Einsatz Dinic, wenn aus wunderbar weichen Celli ein neuer Tag anbricht und die Bläser strahlend die Liebe Brünnhildes und Siegfrieds verkünden. Anfang ist immer möglich. Welch Jubeln, wenn die beiden ihre androgyne Verschmelzung feiern, auch ohne den andern immer beide sein wollen. Großartig frisch klingen hier Tilmann Ungers Tenor und Allison Oakes’ Sopran zusammen. Er zieht in die Welt.

Siegfrieds Verrat an seiner großen Liebe

Siegfried (Tilmann Unger) und Brünnhilde (Allison Oakes) nehmen verliebt Abschied.
Siegfried (Tilmann Unger) und Brünnhilde (Allison Oakes) nehmen verliebt Abschied. © Staatstheater Braunschweig | Björn Hickmann

Doch am andern Ende des Rheins steht Gutrune, und schon hat Siegfried alle Eide vergessen. Es sind auch diese menschlichen Abgründe, die uns alte Mythen lehren, Wahrheiten, die traurig machen. Mit einer Maske erobert er Brünnhilde noch einmal, jetzt für den Blutsbruder Gunther. Verschattet die Stimme, er ist ein ganz anderer Mann an diesem Gibichungenhof. Es ist fantastisch, wie Dinic die dunklen, vielfach gebrochenen Farben der Partitur herausholt.

Und wieder ist es eine Tanzszene, die in den Bann schlägt: Während Brünnhilde (selbst)verliebt unter ihrem Sonnensegel strahlt, setzen Tänzerinnen als ihre Walküren-Schwestern ihr die Stühle am Familientisch zurecht. Keine Versöhnung. Mitten darunter Marlene Lichtenberg als Waltraute, die warmtönig die Vision von Wotan aussingt, dem zum letzten Mal „ewig lächelnden Gott“. Nämlich dann, wenn sein zivilisatorisches Verbrechen an der Natur durch die Rückgabe des Macht-Rings an die Rheintöchter getilgt würde.

Brückenbauen zwischen Mensch und Natur

Aber die Rheintöchter, von Veronika Schäfer, Milda Tubelyte und Marlene Lichtenberg mit dunklem Leuchten gesungen, holen sich bei Siegfried eine Abfuhr, dabei ist er nahe dran, die Last des Rings von sich zu werfen. Denn bei einer Rast im Wald am Rhein wird der vom Gibichungenhof missbrauchte Naturbursch wieder er selbst. Hier unterstützt die Tanzcompagnie den Versuch des Brückenbauens zwischen Mensch und Natur, wenn sie mit den Latten flößen, balancieren und in die Höhe streben. Es wirkt wie der verzweifelte Versuch der Weltbevölkerung, sich trotz anhaltender Naturzerstörung zu retten.

Wagner-Sänger Hawlata in Braunschweig- Liebe an die Macht

Im Wald kann sich Siegfried auch wieder an seine einzige große Liebe, an Brünnhilde erinnern. Es ist schön, wie Unger hier kurzzeitig den naiven Ton des Naturburschen zurückgewinnt, um dann unter dem zaubrischen Aufschimmern der Harfen leidend schön für Brünnhilde zu schwärmen. Und schon trifft ihn Hagens Speer. Dinic gibt den Trauermarsch in der gehörigen Breite eines schmerzlichen Abschiednehmens, das unter den Perkussions-Schlägen schaudernd zusammenzuckt. Erschütternd.

Mit Stierhorn die Capitolsturmtruppen rufen

Auf den Videos stürzen währenddessen Hochhäuser und die Wotan-Darstellenden der vergangenen „Ring“-Teile in sich zusammen. Das passt eigentlich nicht. Siegfried, der Wotans Gesetzesmacht zertrümmert hat, stand eben gerade nicht für dessen Zivilisationsideen, mit ihm müssten die Bäume und der Regenwald fallen. Die Welt des architektonischen Brutalismus brennt erst ganz am Schluss.

Und in dieser Welt regiert die Aggression, wie sie Chor und Extra-Chor als Gibichsmannen mit saftigem Ton anschlagen. Von Hagen aus voller Brust und mit selbst geblasenem Stierhorn aufgeputscht. Mit Fellen und Hornkappen erwecken sie Assoziationen an Trumps Capitolsturmtruppen.

Heimgesucht von Geistern vergangener Dramen

Franz Hawlata singt Hagen mit starkem, gefährlich schwellendem Bass, und Dinic verstärkt mit einem plötzlichen Dynamikabfall noch das Abgründige der Figur. Großartig seine Wacht am Rhein, auch sein Zusammenbruch, wenn er den väterlichen Auftrag zur Ermordung Siegfrieds erfüllt hat, aber nicht mal mehr die Kraft findet, den Halbbruder Gunther auszuschalten, nur langsam die Wand entlangrutscht, längst wissend, dass in keinem Kampf mehr was zu gewinnen ist.

Götterdämmerungs-Probe am Staatstheater- Tanz den Wagner

Von den als Ideenträger und Machterben missbrauchten Kindern wollen Dagmar Schlingmann, Isabel Ostermann und Beatrice Müller in ihrer auf die Szenen verteilten Regie handeln. Es ist eine eher karg ausgestattete Bildfolge. Am stärksten, wenn Hagen auf Theatersesseln sitzt und von Tanzenden, die wie Lemuren, Geister vergangener Dramen, unter dem roten Vorhang hervorkrabbeln, heimgesucht wird. Unter ihnen sein Vater Alberich, dessen dunklen Einflüsterungen Michael Mrosek mit sattem Bariton Profil gibt.

Requisiten aus der Museumsvitrine

Hagen wiederum missbraucht seine Halbgeschwister, um Siegfried zu kapern: Gunther, den Christian Miedl etwas forciert singt, outet dabei im langgezogenen Bruderkuss etwas Männerliebe. Und gut herausgearbeitet ist Gutrunes erwachende Solidarität für die betrogene Brünnhilde. Victoria Leshkevich lässt mit füllig weichem Sopran aufhorchen. Warum die Gibichungen im quietschenden Cabrio ausgerechnet bei einem Imbiss vorfahren? Wirkt wie die Schmalspurausgabe von Castorfs Bayreuth-Bildern. Manchmal werden legendäre Requisiten aus Museumsvitrinen genommen, könnte man auch lassen, Wagner braucht sie nicht.

Nicht zu beneiden ist Schauspieler Matthias Schamberger, der als schnauzbärtiger Nietzsche stumm durch die Szenen geistert und mit Kreide Zitate an die Wände malt. Dass gerade er den toten Siegfried fürsorglich zu seiner Vitrine begleitet, ist wenig überzeugend, wo er doch stets gegen das Mitleiden polemisiert hat und den Willen zur Macht propagierte.

Silberstreif des Liebesmotivs

Wagner setzte auf die Liebe, die sich als feiner orchestraler Silberstreif ganz am Ende des Werks über die wütenden Elemente und den erlebten Ausschnitt aus dem bürgerlichen Machtstreben legt. Mit bis zuletzt substanzvoll schöner, nie schriller, ruhig sich versendender Stimme leitet Allison Oakes in Brünnhildes Schlussgesang diese Wendung ein, gibt den Ring einer Rheintochter zurück.

Und die Liebesidee ist wirksam, die Mitwirkenden haben aus der Auseinandersetzung mit dem alten Mythos gelernt und hindern Brünnhilde am Selbstmord. Sie rufen gemeinsam Hagens: „Zurück vom Ring!“ Keine Macht für niemand. Alle schreiben fromme Wünsche auf die Wände, von Freiheit bis Diversität. Leider erlischt auch die Fackel aus Brünnhildes Auftritt vom Beginn des Opern-Vierteilers. Workshop statt Revolution? Wenn man durch Bürgerbeteiligung das Klima retten will, braucht man schon Wagners Klangzauber zum Hoffen.

Braunschweigs Ring-Start- Viel Götter-Dämmerung im Rheingold

Dinic lässt die Elemente plastisch zusammenschlagen, hält das Hoffnungsmotiv geigensatt schwebend. Wie konzentriert das Staatsorchester fünf Stunden hochkomplexer Musik zu emotionalen Klangräumen geformt hat, ist hinreißend. Szenisch setzte das Tanzensemble besondere Akzente. Heftiger Applaus.

Wieder am 10., 18., 24. Juni. Karten unter Telefon (0531) 1234567 oder www.konzertkasse.de