Braunschweig. Das Staatsorchester Braunschweig interpretierte im 9. Sinfoniekonzert Werke von Tschaikowsky und Rachmaninow. Beide Vorstellungen sind ausverkauft.

Manchmal ist der Ältere der Modernere. Das war beim jüngsten Sinfoniekonzert des Staatsorchesters am Sonntag im Großen Haus deutlich zu spüren. Zwei ziemlich dicke Brocken wurden da aufeinandergetürmt, etwas viel vielleicht für ein Programm. Sergej Rachmaninows 3. Klavierkonzert von 1909 hat ja durchaus sinfonische Länge und Wucht, und Peter Tschaikowskys 4. Sinfonie von 1876 ist ohnehin ein Schwergewicht der romantischen Literatur.

Zunächst der Jüngere. Rachmaninow ist Postromantik, einer der wie Puccini und anders als Strauss Wagners üppige Orchesterfarben aufnimmt, aber die harmonischen Kühnheiten nicht weiterdreht. Irgendwann landet man dann immer in Hollywood.

Melodisch über den Abgrund weg

Auch bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert zieht einen das große Schwelgen, besonders in den melodischen Streicherlinien, immer wieder über den Abgrund hinweg, der sich manchmal in der Eigensinnigkeit des Klavierparts oder traurigen Verschattungen des Klangs auftut. Es ist nicht unbedingt fröhliche Musik. Aber es tut auch nirgends wirklich weh. Der Schmerz des zeitweise depressiven Komponisten wird mit so verspätet-romantischer Leidensgeste serviert, dass man unweigerlich Ausschau hält nach der Kamera. Und dem Happyend.

Gerade im ersten Satz bis zu seinem perligen Solo leistet sich Pianist Haiou Zhang da ein durchaus eigenständiges Philosophieren, das sich dem von Srba Dinic wallend in Schwung gehaltenen Staatsorchester nicht unterordnet, sondern im prankigen Wiederaufbäumen nach dem Zusammenbruch sogar momentweise rhythmisch entgegenstemmt. Der Klangabgleich im Theater ist anfangs nicht optimal.

Rachmaninow-Finale in Cinemascope

Schmerzlich-zart gerät Dinic die Introduktion des Intermezzos. Fast alarmartig mit plötzlich porzellanigem Klang wirft sich Zhang ins Finale, das vom Orchester festlich-pompös begleitet wird. Man steuert dem Happyend zu, das Klavier darf nun auch weich begleitet schwelgen, arbeitet sich akkordhaft aufwärts, erreicht in prickelnden Noten den Höhepunkt, bis alles mit großem Gestus in Cinemascope zusammenläuft. Tusch.

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Hiaou Zhang, als vehement-kraftvoller Non-Stop-Virtuose umjubelt, dankte mit „Liuyang River“ seines Landsmanns Wang Jianzhong.

Vom Episodenfilm zum romantischen Original: Tschaikowskys 4. Sinfonie startet mit einer hart schmetternden Fanfare, die ins Leben schneidet. Schwelgen geht nicht. Holzbläser versuchen ein tänzerisches Thema, das im ruckelnden Rhythmus und den achterbahnartigen Linien der Streicher konterkariert wird. Dinic betont diese Störungen auch bei den kraftvollen Orchesterstößen, die an Tschaikowskys Ballettmusiken erinnern, und den Gegenbewegungen etwa abwärtsführender Blech-Sequenzen bei aufstrebender Orchestermelodie. So silbrig der kleine Streicher-Walzer klingt, das Pauken-Ostinato bleibt bedrohlich, schicksalhaft, die Holzbläser kapriolen verwirrend dazwischen.

Tschaikowskys zerrissene Charakterbilder

Diese Seele findet keine Ruhe in der gesellschaftlichen wie musikalischen Konvention. Nach Paukenwirbel und Fanfaren nur verstörtes Sich-Wiederfinden der Streicher. Leid und Zerrüttung in dramatischer Spannung und immer wieder Vereinzelung der Motive, auch die Klagemelodie darf sich nicht ungestört aussingen.

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Fast gespenstisch der dritte Satz mit den gezupften Streichern und der schrill über die Holzbläserkollegen pfeifenden Piccoloflöte. Das gelingt ebenso brillant wie das von Dinic extrem schnell genommene Finale. Sehnsuchtsmotive, aus der Oboe bis hinab in Posaunen und Tuba gereicht, die ständig wieder überrannt werden, Glücksfetzen, die sich nicht halten lassen. Schicksalsfanfaren, einsam abfallende Streicherseufzer, dann im Kontrast der fröhliche Schlusswirbel eines Festes, zu dem man nicht gehört. Dinic hat gutes Gespür für Tschaikowskys zerrissene Charakterbilder, die so ganz heutig, substanziell wirken, nicht filmhaft aufgepuscht. Großer Applaus und Bravos.