Braunschweig. Die Debattenkultur krankt: In Parlamenten werden Diskussionen beliebiger, auf den Marktplätzen und im Netz wird gepöbelt.

Es gibt kaum ein Schimpfwort, mit dem in den vergangenen 68 Jahren der politische Gegner im Bundestag nicht traktiert wurde. Auf das Tierleben – Ratte, Schlange, Stinktier, feiger Hund – griffen die Volksvertreter ebenso zurück wie auf Kraftausdrücke. Festgehalten sind auch Begriffe wie Gangster, Möchtegern-Schimanski, Nadelstreifen-Rocker, Armleuchter, Putzlumpen, Massenmörder, Pistolero, Pogromhetzer oder Giftspritze.

Als einer der Spitzenreiter auf der Parlaments-Schimpfliste hat sich Herbert Wehner verewigt. Der ehemalige SPD-Fraktions-Chef brachte es auf 58 Ordnungsrufe. Auch Joschka Fischer (Grüne) und Heiner Geißler (CDU) taten sich hervor. In den (Polit-) Talkshows wurde getrunken und geraucht, dicke Schwaden zogen durch die TV-Studios. Man hat den Eindruck: Früher war mehr Lametta!

Zwar wird auch heute diskutiert, getalkt und palavert, als ob es kein Morgen gäbe. Die dicht aufeinanderfolgenden Wahlkämpfe zur Bundestagswahl und auch zur Landtagswahl in Niedersachsen waren eine einzige große Rederei. In den vier Jahren der Großen Koalition zuvor aber herrschte viel Sprachlosigkeit. Die Abgeordneten hatten kein einziges Mal die Gelegenheit, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ins Kreuzverhör zu nehmen. Im britischen Parlament hingegen ist die Befragung des Regierungschefs der Höhepunkt jeder Sitzungswoche.

Unter der Reichstagskuppel jedoch wird nicht immer um die beste Lösung gerungen – in einem Wettstreit von Argument und Gegenargument. Stattdessen herrschen Koalitionsdisziplin und Fraktionszwang. Die Themen legt die Regierung fest, nicht der Bundestag. Auch das ist ein Unding. Die Große Koalition war für die Debattenkultur im Bundestag eine Zumutung. Von einer Stunde Redezeit hatten die Regierungsfraktionen – CDU/CSU und SPD – 44 Minuten zur Verfügung.

Der Konfliktforscher Andreas Zick hätte sich von Kanzlerin Merkel gerade mit Blick auf die Flüchtlinge mehr gewünscht. „Es hätte gut getan, auch mal eine große Rede zur Einwanderungspolitik zu hören“, sagte er unserer Zeitung.

Der Professor aus Bielefeld nimmt die Abgeordneten aber ausdrücklich in Schutz: „Die Arbeit der Parlamentarier ist heute enger getaktet als je zuvor. Es gibt kaum Zeit. Viele Entscheidungen sind rasant zu treffen.“ Aber: „Ich glaube, der modernen Gesellschaft tut mehr Debatte im öffentlichen Raum gut.“

Der Wahlkampf zwischen Kanzlerin Merkel und SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz allerdings elektrisierte nicht gerade die Massen. Was die beiden wollen, blieb oft im Ungefähren.

Anders war die Auseinandersetzung zwischen SPD-Ministerpräsident Stephan Weil und CDU-Herausforderer Bernd Althusmann. Die beiden griffen sich scharf an – und profitierten jeweils davon. Zumindest führte die Zuspitzung dazu, dass die kleineren Parteien – darunter die AfD – unter die Räder kamen. In Niedersachsen wird es oft knapp. Hier eher konservative Landwirte, dort tendenziell progressive Wähler in den größeren Städten, das macht unser Bundesland zu einem besonders umkämpften.

Die AfD spielt gerne die Rolle

der Benachteiligten

Dabei ist Weil eigentlich ein Prototyp der neuen Spezies Politiker. Ein Kümmerer, einer, der die Leute ernst nimmt. So wie Olaf Scholz (SPD) aus Hamburg oder Daniel Günther (CDU) aus Schleswig-Holstein. Mancher aus dem politischen Berlin, darunter auch viele Berichterstatter, finden den Norddeutschen Weil spröde, vielleicht sogar langweilig. Weil liest gerne, mag Ironie lieber als laute Reden.

Als er vor wenigen Wochen fast täglich durch Niedersachsens Gaststätten und Gemeindesäle tourte, gab es dieses Motto, das zu ihm passt: „Auf ein Wort mit Stephan Weil.“ – „Und zwar auf Augenhöhe“, sagte er. Weil ist der Meinung, dass sich die politische Kultur weiter ändern müsse. Er lebt diesen Wandel vor, sagte: „Dass Politiker über die Köpfe der Leute wegreden, hat keine Perspektive.“

Weils Marschroute ist auch eine Reaktion auf die Pegida-Anhänger und auf die vielen AfD-Wähler in der Republik, die sich – zurecht oder nicht – abgehängt fühlen.

Kanzlerin Merkel, die sonst den öffentlichen Diskurs scheut, erlebte diese angestauten Aggressionen im Bundestags-Wahlkampf hautnah. Vor allem auf den Marktplätzen im Osten Deutschlands wurde sie zum Teil offen angefeindet und beschimpft.

Für Konfliktforscher Zick war das wenig überraschend. Er sagte: „Viele Studien zeigen eine deutliche und härtere Polarisation zwischen Zivilgesellschaft und Gruppen, die klar rechtspopulistische Meinungen teilen und vorgeben, im Widerstand gegen die Eliten zu sein.“ Dass sogenannte einfache Bürger dort mitgeschrien haben, zeige, wie sehr sich Normen verschoben haben. „Aggressiver Widerstand mit Gewalttoleranz ist heute legitimer.“

Die Debattenkultur wird im nächsten Bundestag und auch im niedersächsischen Landtag wieder lebendiger. Im Bundestag sitzen sechs Fraktionen – darunter die AfD. Die Partei versteht sich nicht nur auf Polemik und kalkulierten Eklat. Sie spielt auch gerne die Rolle der Benachteiligten.

Die AfD ist die Partei, deren Spitzenkandidat Alexander Gauland im Wahlkampf vorschlug, eine türkischstämmige Staatsministerin „in Anatolien zu entsorgen“; ansonsten sind „jagen“, „aufräumen“ oder „ausmisten“ sehr beliebte Vokabeln von AfD-Politikern.

Bücher über Anstand haben derzeit Konjunktur

Der frisch gewählte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) soll einen rhetorischen Gegenpol bilden – eine Art Drachentöter. Er ist ein kluger Kopf. Schäuble kann giftig sein, aber auf eine kühle, rationale, badisch-protestantische Weise.

Doch nicht nur Schäuble, die Abgeordneten sämtlicher etablierter Parteien müssen nun daran arbeiten, in jedem Fall besser und klüger als die AfD-Parlamentarier im Bundestag und im Landtag aufzutreten und zu reden. Sie müssen sich der AfD-Rhetorik stellen und dagegen halten. Es wird spannend zu beobachten sein, wie dies gelingen wird.

Es wird auf jeden Fall wieder intensiver zugehen in den Parlamenten. Das wird sich auf den politischen Diskurs und die Debattenkultur insgesamt auswirken. Wie, das hängt ganz davon ab, wie sich die AfD im Bundestag präsentiert und wie der politische Wettbewerber mit ihr umgeht.

Oft werden heute Diskussionen komplett ins Internet übertragen, vor allem in die sozialen Medien. Wer die eigene Meinung nicht teilt, wird schon mal durchbeleidigt. Worte werden nicht als Mittel der Diskussion benutzt, sondern als Waffen.

Auch in der Redaktion unserer Zeitung bemerken wir seit Jahren einen raueren Ton. Leserbriefe oder Mails an die Redakteure sind meistens sehr viel moderater formuliert als so mancher anonym geschriebene Kommentar auf unseren Internetseiten. Diese müssen die Kollegen aus der Online-Redaktion immer wieder mal löschen, wenn es allzu bunt wird.

Das Internet und die sozialen Netzwerke werden immer mehr zur Bühne für Pöbeleien, Hetze und Hass. Konfliktforscher Zick hat bemerkt, dass sich die gesellschaftlichen Normen dadurch längst verschoben haben. „Die Sitten verrohen“, sagte er.

Eine, die Hetze im Internet erlebt hat, ist die Grünen-Politikerin Renate Künast. In ihrem neuen Buch „Hass ist keine Meinung“ beschreibt sie, wie sie im Netz beleidigt wurde. „Pack deine sieben Sachen und zisch ab“ ist eine jugendfreie Variante.

Bücher über Anstand haben derzeit Konjunktur. Auch der Schriftsteller und gebürtige Braunschweiger Axel Hacke beschäftigt sich mit dem Thema. Er schreibt: „Es schwappt ja seit einer Weile nicht nur eine Woge von Anstandslosigkeit um die Welt, sondern ein ganzer Ozean tobt.“ Da fällt einem auch Donald Trump ein, der es nicht trotz, sondern wegen seiner Grobheit ins Weiße Haus geschafft hat.

Man sollte jetzt nicht den Glauben in die Menschheit verlieren. Aber viel wird darauf ankommen, wie wir uns im Internet verhalten – das Netz als Katalysator der modernen Welt. Konfliktforscher Zick glaubt, dass es Zeit braucht, bis sich die Sitten dort ändern. „Die Frage ist, ob wir die Zeit haben.“ Die technischen Möglichkeiten sind in vielen Bereichen schneller als die Lernprozesse. Zick: „Wenn wir jetzt noch über Medienkompetenz beim Schreiben diskutieren, kann es sein, dass die Kommunikation zukünftig nur noch per Bild erfolgt.“ Er fordert eine Debatte darüber, was okay ist im Umgang miteinander und setzt zugleich die Leitplanken für einen fairen Austausch in den sozialen Netzwerken: „Zivilcourage, Respekt und Toleranz bei allen Unterschieden.“