Braunschweig. Am Braunschweiger Landgericht startet am Freitag der Prozess gegen Christian B. – es geht um fünf schwere Sexualstraftaten. Opfer: Frauen und Kinder.

Das noch immer ungeklärte Schicksal des dreijährigen britischen Mädchens Madeleine McCann, das im Mai 2007 im portugiesischen Ferienort Praia da Luz spurlos aus einem Hotelzimmer verschwand, bewegt die Öffentlichkeit in aller Welt. Und so werden denn auch Medienvertreter aus dem In- und Ausland am Freitag (16. Februar) im Braunschweiger Landgericht den Auftakt zu einem Strafprozess gegen jenen Mann verfolgen, der im Verdacht steht, Maddie vor fast 17 Jahren entführt und ermordet zu haben.

Während die zuständige Braunschweiger Staatsanwaltschaft im Fall Maddie weiter ermittelt, wirft sie Christian B. – dem mehrfach vorbestraften deutschen Auswanderer mit letztem Wohnsitz in Braunschweig – in einer aktuellen Anklage fünf Sexualdelikte vor: Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch, begangen zwischen 2000 und 2017 in Portugal.

29 Verhandlungstage hat die Jugendstrafkammer des Landgerichts für den Prozess bis Ende Juni angesetzt. Alle 40 Presseplätze im größten Sitzungssaal des Gerichts an der Münzstraße sind vergeben. Christian B. kennt den Saal bereits. Ende 2019 wurde er hier wegen der Vergewaltigung einer 72-Jährigen in Portugal zu sieben Jahren Haft verurteilt. Eine Chronologie.

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Verdächtiger im Fall Maddie in Braunschweig vor Gericht: Um welche Taten geht es?

16. Juni 2004: Im portugiesischen Praia da Rocha unweit von Lagos und Praia da Luz wird nachts gegen drei Uhr eine 20 Jahre alte Irin in ihrem Appartement aus dem Schlaf gerissen: Über den Balkon ist ein maskierter Mann in ihre Wohnung eingedrungen. Er bedroht sie mit einem Messer und vergewaltigt sie brutal. Anschließend fesselt er sie an einen Tisch, knebelt sie und vergewaltigt sie erneut, bevor er sein Opfer mit einer mitgebrachten Peitsche auf dem Rücken auspeitscht. Zum Teil filmt der Mann sein Verbrechen mit einer Videokamera. Danach flieht er über den Balkon. Das Opfer kann sich befreien und holt weinend Hilfe.

2. September 2005: Es ist ein heißer Sommerabend im portugiesischen Ferienort Praia da Luz an der Algarveküste – jenem Ort, in dem knapp zwei Jahre später Maddie aus einer Appartmentanlage verschwinden wird. Die 72 Jahre alte Witwe, die seit dem Tod ihres Mannes allein in dem Ferienhaus in Nähe des Strandes lebt, hat die Terrassentür geöffnet. In der Heimat der US-Amerikanerin hat der Hurrikan Katrina gerade tausende Menschenleben gekostet. Gebannt verfolgt sie die Nachrichten. Dass sich ein Unbekannter ins Haus schleicht, bemerkt sie nicht. Der Mann lauert ihr auf, als sie in ihrem Arbeitszimmer noch ein paar E-Mails an Bekannte schreiben möchte. Er trägt eine graue Maske. Zwei Löcher lassen die Augen frei. Die Witwe bemerkt, dass er ein langes gebogenes Messer in der Hand hält. Es sieht wie ein Krummsäbel aus. Er packt sie, zerrt sie ins Schlafzimmer, fesselt, entblößt die Frau und bindet ihr die Augen zu. Bevor er sie vergewaltigt, schlägt er mit einem biegsamen metallenen Gegenstand „planvoll“, wie sie später sagen wird, auf ihren Körper ein. Danach beraubt er sie.

7. April 2007: Wenige Wochen vor Maddies Verschwinden lauert ein Mann am Strand einem Kind auf und nötigt es zu sexuellen Handlungen an ihm. Bei dem Täter soll es sich um Christian B. handeln.

3. Mai 2007: Am Abend des 3. Mai 2007, neun Tage vor ihrem vierten Geburtstag, verschwindet Madeleine McCann während eines Familienurlaubs in Praia da Luz spurlos aus ihrem Appartement in einer Ferienanlage. Die Eltern, das britische Ärztepaar Kate und Gerald McCann, essen zu dieser Zeit im Tapas-Restaurant der Anlage in geselliger Runde zu Abend. Im Wechsel sehen die Eltern bei den Kindern nach dem Rechten. Als Kate McCann gegen 22 Uhr das Zimmer betritt, in dem Maddie und die zweijährigen Zwillinge schlafen, ist das Bett der Dreijährigen leer. Damit begann unter den Augen der Weltöffentlichkeit eine beispiellose Suche nach dem verschwundenen Mädchen, nach möglichen Tätern und Motiven. Hinweise auf Maddie sollen aus 42 Ländern auf fünf Kontinenten eingegangen sein. Doch alle vermeintlichen Sichtungen des blonden Mädchens mit den blauen Augen laufen wie Ermittlungen gegen Verdächtige in Leere.

2016: Im Fall der Vergewaltigung der 72-Jährigen gibt es keine Hinweise auf einen Täter. Die portugiesische Polizei stellt das Verfahren ein.

Juni 2017: Bei einem Volksfest nimmt ein Mann nachts auf einem Spielplatz Blickkontakt zu einerm elf Jahre alten portugiesischen Mädchen auf, das auf einer Schaukel sitzt. Unter ständigem Blickkontakt mit dem Kind zieht er seine Hose herunter und masturbiert, bis das Mädchen Hilfe suchend zu ihrem Vater läuft. Der mutmaßliche Täter wird noch vor Ort festgenommen. Es handelt sich um Christian B.

Dieses Foto stammt aus Juni 2020. Es zeigt das Haus an der portugiesischen Algarve, in dem Christian B. eine Zeit lang gelebt hatte. Fanden hier auch Verbrechen statt?
Dieses Foto stammt aus Juni 2020. Es zeigt das Haus an der portugiesischen Algarve, in dem Christian B. eine Zeit lang gelebt hatte. Fanden hier auch Verbrechen statt? © AFP | Carlos Costa

2018: Ein Zeuge aus dem Umfeld des deutschen Auswanderers Christian B. erwähnt gegenüber der Polizei im Zusammenhang mit den Maddie-Ermittlungen Videoaufnahmen mit realen Vergewaltigungsszenen, die er im Jahr 2006 gemeinsam mit einem Bekannten bei einem Einbruch ins Haus von Christian B. in Praia da Luz entdeckt haben will. Christian B. saß zu dieser Zeit wegen Dieselklaus in Portugal in Haft. Beide wollen auf den Videos Christian B. als Täter erkannt haben. Einmal soll es sich um die Vergewaltigung und Quälerei einer älteren, gefesselten Frau gehandelt haben. Das Opfer soll eine Schwimmbrille getragen haben, deren Gläser grau übertüncht waren. Eine solche Brille wollen die Zeugen auch im Haus von Christian B. gesehen haben. Auf dem Video war nach ihrer Beschreibung auch zu sehen, dass er die Frau mit einer kleinen Peitsche schlug. In einem weiteren Fall soll eine Jugendliche an einen Pfosten im Haus des Angeklagten gefesselt und von ihm sexuell missbraucht worden sein. Die Aufnahmen, von denen die Zeugen berichten, sind zwar verschwunden. Doch erkundigen sich die deutschen Ermittler bei der portugiesischen Polizei, ob im fraglichen Zeitraum vor 2006 solche Verbrechen angezeigt worden seien – und stoßen auf die Vergewaltigung der US-Amerikanerin: Wenn es sich auch nicht um die Frau auf dem Video handelt, scheint das Tatgeschehen doch die Handschrift desselben Täters zu tragen. Der Verdacht fällt auf Christian B.

Wer ist der Maddie-Verdächtige Christian B.?

Ursprünglich ist er in einem Heim in Süddeutschland aufgewachsen. Eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker bricht er ab, um als 18-Jähriger mit seiner damaligen Freundin nach Portugal auszuwandern. Seiner eigenen Schilderung nach wollte er dadurch einer Jugendstrafe entgehen. In Portugal lebt er von verschiedenen Jobs und hat auch wechselnde Liebesbeziehungen. Zeugen aus portugiesischer Zeit beschreiben ihn als einen Glücksritter, „der versucht hat, was auszustrahlen, aber auch nicht auf großen Zampano gemacht hat“. Er soll einen alten Jaguar gefahren sein und auf sein Äußeres geachtet haben. „Er lief sehr gepflegt herum, trug immer Hemd und Jackett“, erinnert sich einer.

1999 wird Christian B. in Portugal verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert, wo die Jugendstrafe vollstreckt wird. Danach kehrt er nach Portugal zurück. In Praia da Luz wohnt er in einem kleinen Haus und verdient Geld mit dem Autohandel, das heißt, er kauft in Deutschland Autos, repariert sie und verkauft sie in Portugal. Später soll er als Kellner und Barkeeper in verschiedenen Lokalitäten gearbeitet haben.

Daneben begeht er auch Straftaten. 2006 wird er festgenommen, als er versucht, Diesel zu stehlen. Es gibt Erzählungen, dass er in Hotelzimmer eingestiegen sei und Touristen beklaut habe. In seinem kriminellen Milieu soll er als „Fassadenkletterer“ bekannt gewesen sein. Er selbst bestreitet das.

Seit 2012 ist Christian B. in Braunschweig gemeldet

November 2012: Seit November 2012 ist Christian B. in Braunschweig gemeldet. Nach seiner eigenen Aussage später vor Gericht hat ihn der Zufall hierher verschlagen. Wegen einer Panne seines Wohnmobils in Hannover gestrandet, habe er wenig später in Braunschweig zusammen mit seiner Freundin einen Kiosk samt zugehöriger Wohnung gemietet. Die Beziehung zerbrach, Christian B. gab den Kiosk wieder auf. Wie er selbst sagte, habe er kurz vor einem Burn-out gestanden. 2014 zieht er in die Gartenlaube eines Braunschweiger Kleingartenvereins.

Braunschweig, 2016: Das Braunschweiger Amtsgericht verurteilt Christian B. wegen sexuellen Missbrauchs und Kinderpornografie zu 15 Monaten Haft und stellt ihn unter anschließende Führungsaufsicht. Er soll die Tochter seiner Ex-Freundin missbraucht und anzügliche Fotos von der Fünfjährigen gemacht haben. Er setzt sich wieder nach Portugal ab. Nach seiner Festnahme im Juni 2017 auf dem portugiesischen Volksfest wird er noch im selben Monat an Deutschland ausgeliefert, wo er die vom Braunschweiger Amtsgericht verhängte Haftstrafe vollständig verbüßt. Nach seiner Haftentlassung verschwindet er allerdings nach Italien, wo er im September 2018 aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Verbüßung einer Strafe wegen Marihuana-Handels auf Sylt erneut festgenommen und ausgeliefert wird. Zudem liegt zwischenzeitig auch ein Haftbefehl wegen des Vergewaltigungsvorwurfs vor.

Dezember 2019: Vor dem Braunschweiger Landgericht muss sich Christian B. wegen der Vergewaltigung der US-Amerikanerin 14 Jahre zuvor verantworten. Ihn belasten nicht nur die Berichte über die Videoaufnahmen mit Vergewaltigungsszenen. Hinzu kommt: Christian B. wohnte nur etwa einen Kilometer vom Ferienhaus der 72-Jährigen entfernt. Wollte er zum Strand, lag ihr Haus direkt an seinem Weg. Ein weiteres entscheidendes Indiz: Zu den Spuren, die am Tatort gesichert und neu ausgewertet worden sind, gehört ein zwei Zentimeter langes Körperhaar auf einem Bettlaken, das zweifelsfrei vom verdächtigen Christian B. stammt. Im Prozess bestreitet Christian B. den Vergewaltigungsvorwurf und erklärt, er habe in der Nähe des Hauses der Witwe öfter eine Katze gestreichelt. Womöglich habe die Katze sein Haar ins Haus der 72-Jährigen übertragen. Das allerdings erklärt die Gutachterin des Bundeskriminalamtes für sehr unwahrscheinlich. Eine solche Sekundärübertragung auf das Bettlaken sei bei einem Körperhaar sogar noch unwahrscheinlicher als bei einem Kopfhaar. Zusammen mit dem Drogenurteil verurteilt die Kammer Christian B. zu einer siebenjährigen Gesamtstrafe, die er zurzeit noch verbüßt.

Braunschweig, Juni 2020: Rund sechs Monate nach diesem Prozess geht eine Nachricht um die Welt: In der ZDF-Fahndungssendung „Aktenzeichen XY – ungelöst“ machen die Braunschweiger Staatsanwaltschaft und das Bundeskriminalamt in einem Zeugenaufruf ihre Ermittlungen gegen Christian B. öffentlich. Sie verdächtigen den inzwischen 44-Jährigen, Madeleine McCann am 3. Mai 2007 entführt und ermordet zu haben. Über den Stand der Ermittlungen geben die Strafverfolger wenig bekannt. Die Ermittlungen dauern bis heute an.

Im Juni 2020 gibt Staatsanwalt Hans Christian Wolters ein Statement zu den Ermittlungen im Fall Madeleine McCann ab. Die Ermittlungen dauern bis heute an.
Im Juni 2020 gibt Staatsanwalt Hans Christian Wolters ein Statement zu den Ermittlungen im Fall Madeleine McCann ab. Die Ermittlungen dauern bis heute an. © FMN | Bernward Comes

London, Juni 2020: Bei der Londoner Polizei meldet sich die Irin, die 2004 wenige Kilometer von Praia da Luz entfernt ebenfalls vergewaltigt worden war. Sie bittet darum, dass ihr Fall neu aufgerollt wird. Als sie im Zusammenhang mit dem Fall Maddie erfahren habe, in welcher Weise Christian B. die 72-Jährige vergewaltigt und ausgepeitscht haben soll, habe das Vorgehen des Täters sie an ihre eigenen Erlebnisse erinnert.

Das wird Christian B. im neuen Prozess in Braunschweig vorgeworfen

Februar 2023: Vom 16. Februar an muss sich Christian B. erneut vor dem Braunschweiger Landgericht verantworten. In ihrer Anklage wirft die Staatsanwaltschaft dem heute 47-Jährigen fünf Sexualdelikte zwischen 2000 und 2017 vor. In drei Fällen soll er in Portugal Frauen vergewaltigt, in zwei weiteren Fällen Kinder sexuell missbraucht haben. Dabei spielen in zwei Fällen die Berichte über die Videofilme eine Rolle: Demnach soll der Angeklagte irgendwann zwischen Ende 2000 und April 2006 eine unbekannt gebliebene etwa 70 bis 80 Jahre alte Frau in ihrer Ferienwohnung überrascht haben. Er war maskiert. Sein Opfer soll er gefesselt, vergewaltigt und anschließend mit einer Peitsche geschlagen und das Verbrechen mit Videokamera gefilmt haben. An einem anderen Tag in diesem Zeitraum soll er außerdem ein mindestens 14 Jahre altes Mädchen in seinem Haus in Portugal an einen dortigen Holzpfahl gefesselt, ebenfalls mit einer Peitsche geschlagen und zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Auch das wollen Zeugen auf der Videoaufzeichnung gesehen haben. Bei der dritten Vergewaltigung, die ihm vorgeworfen wird, handelt es sich um den Fall der Irin im Jahr 2004. Auch diese Tat ordnet die Staatsanwaltschaft Christian B. zu.

In den zwei weiteren Anklagepunkten wird Christian B. der sexuellen Missbrauch von Kindern vorgeworfen. Einmal geht es um den Übergriff am 7. April 2007 in Portugal, wo er nachmittags am Strand einem Kind aufgelauert und es zu sexuellen Handlungen an ihm genötigt haben soll. Im zweiten Missbrauchsfall geht es um das Masturbieren vor einer Elfjährigen im Juni 2017 auf einem portugiesischen Volksfest.

Christian B.: Bei Verurteilung droht Sicherungsverwahrung

Wird Christian B. in dem anstehenden Prozess gemäß der Anklage verurteilt, muss er neben einer hohen Strafe auch mit Sicherungsverwahrung rechnen. Darauf hatte das Braunschweiger Oberlandesgericht in einem Beschluss zur Zuständigkeit der Braunschweiger Justiz in diesem Verfahren hingewiesen.

Eine Sicherungsverwahrung kann sich unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen an eine Freiheitsstrafe anschließen und soll die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen. Sie ist zeitlich grundsätzlich unbefristet, doch muss jährlich überprüft werden, ob der Sicherungsverwahrte weiterhin als gefährlich einzustufen ist.