Braunschweig. Anklage wirft 46-Jährigem Vergewaltigungen und Missbrauch vor. Oberlandesgericht Braunschweig mahnt zur Eile, über das Hauptverfahren zu entscheiden.

Dem mehrfach vorbestraften Verdächtigen im Fall Madeleine McCann droht bei einer neuerlichen Verurteilung wegen drei brutalen Vergewaltigungen und zweifachen Kindesmissbrauchs eine zeitlich unbefristete Sicherungsverwahrung – und zwar unabhängig vom noch offenen Ausgang der Ermittlungen zur mutmaßlichen Entführung und Ermordung des dreijährigen britischen Mädchens, das im Mai 2007 spurlos aus einem Hotelzimmer im portugiesischen Urlaubsort Praia da Luz verschwand.

Das geht aus dem Beschluss hervor, in dem das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig die Zuständigkeit der Braunschweiger Justiz für den deutschen Auswanderer bestätigt. Zugleich mahnt das Obergericht das Braunschweiger Landgericht zur Eile: Die für das Strafverfahren zuständige Kammer solle „zügig“ über die Eröffnung des Hauptverfahrens und einen damit verbundenen Haftbefehl entscheiden.

Mehr als zwei Drittel der Haftstrafe wegen Vergewaltigung verbüßt

Der Grund: Der heute 46-Jährige, der bereits im Dezember 2019 vom Landgericht Braunschweig wegen der Vergewaltigung einer US-Amerikanerin im Jahr 2005 in deren Ferienhaus in Praia da Luz zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, habe bereits mehr als zwei Drittel der Haft verbüßt. Ohne einen weiteren Haftbefehl bestehe bei Entlassung Fluchtgefahr – zumal angesichts der „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ begangenen Sexualverbrechen eine hohe Freiheitsstrafe und die Anordnung einer anschließenden Sicherungsverwahrung drohe.

Anklage: Brutale Vergewaltigungsszenen auf Video

Bereits vor einem Jahr hat die Braunschweiger Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Landgericht erhoben: Aussagen von Bekannten des Verdächtigen im Zusammenhang mit der verschwundenen Maddie sowie deren Berichte über Videoaufnahmen, die Vergewaltigungsszenen zeigen sollen, hatten die Ermittlungen ins Rollen gebracht.

Außer der Vergewaltigung der US-Amerikanerin – in diesem Fall überführte eine DNA-Spur am Tatort den 46-Jährigen – soll er zwischen 2000 und 2017 in Portugal weitere Sexualstraftaten begangen haben. So beschuldigt ihn die Anklagebehörde, eine Minderjährige in seinem Haus in Praia da Luz – dem Ferienort an der Algarve, in dem auch Maddie verschwand – an einen Holzpfahl gefesselt und sexuell misshandelt zu haben. Ein anderes Video soll die Vergewaltigung und Misshandlung einer älteren Frau zeigen. Beide Opfer sind bis heute nicht identifiziert.

2004 soll er außerdem nachts in Praia da Rocha in Portugal maskiert über den Balkon ins Appartement einer damals 20-jährigen Irin eingestiegen sein, sie gepeitscht, gefesselt und mehrfach vergewaltigt haben. Auch in diesem Fall soll er die Tat mit einer mitgebrachten Videokamera gefilmt haben.

Vorwurf: Am Strand nackt einer Zehnjährigen aufgelauert

Im April 2007 soll der Beschuldigte an einem Strand im portugiesischen Distrikt Faro einem spielenden zehnjährigen deutschen Mädchen zwischen Felsen nackt aufgelauert und vor ihm masturbiert haben. Weiter wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, im Juni 2017 nachts während eines Festes auf einem Spielplatz Blickkontakt zu einem 11-jährigen portugiesischen Mädchen aufgenommen und ebenfalls vor ihm masturbiert zu haben. Die Polizei nahm ihn noch vor Ort fest.

Italien muss Prozess als Auslieferungsland zustimmen

Wann es zum Prozess kommt, steht noch nicht fest. Bislang ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht nicht eröffnet. Bevor die Kammer darüber entscheiden kann, braucht sie nach EU-Recht die Einwilligung Italiens. In Italien war der Verdächtige im September 2018 festgenommen und nach Deutschland zur Verbüßung einer Haftstrafe wegen Drogenhandels ausgeliefert worden. Seitdem befindet er sich in Haft in Deutschland.

Braunschweig oder Sachsen-Anhalt? Streit um Gerichtsstandort

Hinausgezögert hat das Verfahren ein juristisches Gerangel zwischen Verteidiger, Gericht und Staatsanwaltschaft um den Gerichtsstandort. Konkret ging es um die Frage nach dem letzten Wohnsitz in Deutschland: Nach ihm richtet sich die Zuständigkeit.

Galt in zwei früheren Strafverfahren vor dem Braunschweiger Amts- und Landgericht unwidersprochen Braunschweig als letzte deutsche Meldeadresse und letzter Wohnsitz, brachten der Beschuldigte und sein Verteidiger im Zuge der aktuellen Anklage plötzlich erstmals ein Grundstück des Beschuldigten in Sachsen-Anhalt als letzten Wohnsitz ins Spiel. In Braunschweig habe sein Mandant zuletzt nur noch eine Scheinadresse gehabt.

OLG: Braunschweig mit „selten anzutreffender Sicherheit“ letzter Wohnsitz

Dieser Version folgte die zuständige Kammer des Landgerichts und erklärte sich im April für nicht zuständig. Zugleich hob sie den Haftbefehl auf. Auf die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft hin stellte das Oberlandesgericht im September dagegen fest, dass mit einer „selten anzutreffenden Sicherheit“ geklärt sei, dass der letzte Wohnsitz des Angeschuldigten in Braunschweig gewesen sei, und zwar in einem Kleingartenverein, in dem er eine Parzelle gepachtet hatte.

Laut OLG-Beschluss war der Verdächtige im Fall Maddie seit November 2012 in Braunschweig gemeldet. Wie er in einem früheren Prozess angab, hatte ihn der Zufall hierher verschlagen. Wegen einer Panne seines Wohnmobils in Hannover gestrandet, habe er wenig später in Braunschweig einen Kiosk samt zugehöriger Wohnung gemietet. Beides gab er wieder auf, 2014 zog er in den Schrebergarten um und unterhielt bei einem Bekannten lediglich eine Postadresse.

Ermittler durchsuchten 2016 Gartenlaube in Braunschweig

Die juristisch entscheidende Frage: Wo genau lebte er, kurz bevor er sich im Mai 2016 wieder nach Portugal absetzte? Abzuhauen – diesen Plan schien er gefasst zu haben, nachdem Ermittler im Februar 2016 zeitgleich sein Gartenhaus in Braunschweig und sein Grundstück in Sachsen-Anhalt durchsucht hatten.

Damals soll er selbst sein Gartenhaus in Braunschweig als Wohnsitz genannt haben. Das Oberlandesgericht sieht das durch den Durchsuchungsbericht bestätigt: Die Laube in Braunschweig soll als Wohnung voll eingerichtet gewesen sein. Das Gebäude habe über Strom- und Wasseranschluss verfügt, eine Küchenzeile mit betriebsbereiten Elektrogeräten, einen Waschraum und Möbel. Auch Kleidung und private Utensilien wie Laptop und Fotoapparate seien gefunden worden.

Auf Grundstück in Sachsen-Anhalt weder Strom noch Wasser

Das Grundstück in Sachsen-Anhalt hingegen, stellte das OLG fest, habe nur als Abstellplatz von Kraftfahrzeugen gedient haben, die er habe aufbereiten und verkaufen wollen. Auf dem ehemaligen Fabrikgelände habe es zwar Toiletten und Waschräume, aber weder Wasser- noch Stromanschluss gegeben. Ein weiteres Argument, das für das OLG gegen einen letzten Wohnsitz in Sachsen-Anhalt spricht: Ein Wohnmobil, in dem er Anfang Mai auf dem Grundstück explizit gewohnt haben will, habe er ab spätestens April 2016 gar nicht mehr besessen.

Nach Durchsuchungen setzte sich Tatverdächtiger nach Portugal ab

Denn nach den polizeilichen Durchsuchungen soll er seine Flucht vor den Ermittlern vorbereitet haben: Im April, heißt es, habe ein Bekannter ihn noch regelmäßig auf seiner Parzelle im Braunschweiger Kleingarten gesehen. Im selben Monat soll er aber den diesbezüglichen Pachtvertrag gekündigt und zudem den Verkauf seines Grundstücks in Sachsen-Anhalt geplant haben. Zugleich habe er begonnen, dieses Grundstück zu räumen: Ein Schrotthändler sei beauftragt gewesen, Aluminium und Kupfer zu verschrotten. 14 Autos und das Wohnmobil seien vom Grundstück entfernt worden.

In früheren Strafverfahren Braunschweig als letzten Wohnsitz genannt

Und warum hätte der Angeschuldigte in früheren Strafverfahren vor dem Braunschweiger Landgericht hinsichtlich seines letzten Wohnsitzes falsche Angaben machen sollen? Ein Motiv für eine solche Lüge erkennt das OLG nicht. Denn hätte er damals nicht Braunschweig, sondern sein Grundstück in Sachsen-Anhalt als letzten Wohnsitz genannt, hätte er das Verfahren verzögern oder verhindern können.

Seine früheren Aussagen, dass er zuletzt in der Gartenlaube in Braunschweig gewohnt habe, hält das Oberlandesgericht auch deshalb für glaubhaft, weil sie sich mit Zeugenaussagen und Erkenntnissen aus den Durchsuchungen deckten.

2017 lieferte Portugal 46-Jährigen aus: Haft wegen Kindesmissbrauchs

Im Mai 2016 setzte sich der ursprünglich aus Süddeutschland stammende Mann wieder nach Portugal ab. Von dort wurde er im Juni 2017 nach Deutschland ausgeliefert, um eine vom Braunschweiger Amtsgericht verhängte 15-monatige Freiheitsstrafe wegen Kindesmissbrauchs und Kinderpornografie zu verbüßen. Danach wurde er unter eine mehrjährige Führungsaufsicht gestellt, wurde weiter observiert, verschwand aber über Amsterdam nach Italien, wo er erneut festgenommen wurde.