Helmstedt. Von Pornos bis Periode: Zwei Expertinnen von Pro-Familia verraten, welche Fragen Pubertierende bewegen – und was Erwachsene lernen können.

Früher waren es die Bravo-Heftchen, die unter Jugendlichen die Runde machten, heute ist im Internet pornografischer Inhalt überall frei verfügbar: Inspiration dazu, was Sex ist und wie das eigentlich funktioniert, haben sich Pubertierende immer schon eher nicht in der Schule gesucht.

Was nicht heißt, dass die Aufklärung im Klassenraum keine Rolle spielen würde. Neben der Sexualerziehung im Lehrplan besuchen zum Beispiel die Beraterinnen von Pro Familia die Schulklassen, um aufzuklären und alle Fragen zu beantworten, die vor Lehrkräften oder Eltern vielleicht peinlich sind.

Ist mein Penis groß genug? Ab wann geht eine Brust-OP? Diese Fragen haben auch Kinder

Wollten Sie schon immer mal wissen, welche Fragen Ihr Kind in der Pubertät umtreiben? Bitteschön:

Ist mein Penis groß genug? Was ist, wenn der Penis nicht steif wird? Wie läuft eine Abtreibung ab? Wie funktioniert Sex unter Homosexuellen? Kann das Sperma leer sein? Ist Selbstbefriedigung schlimm? Warum sind Mädchen so komisch?

Solche Fragen stellen sich viele Jungs. Mädchen wiederum fragen sich oft folgendes:

Wie lange dauert die Periode? Was kann ich gegen die Schmerzen tun? Wie definiert man eine Beziehung? Ab wann ist Sex Sex? Ist die Pille schädlich? Ab wann ist eine Brust-OP erlaubt? Woher weiß ich, auf welches Geschlecht ich stehe? Wie funktioniert eine Geschlechts-Angleichung?

Sexualkunde-Unterricht wird durch Beratung von Expertinnen ergänzt

Diese Fragen (und zahlreiche weitere) stellen Jugendliche regelmäßig an Leyla Demirkaya und Melanie Schwirz. Beide sind Beraterinnen bei Pro Familia in Helmstedt und besuchen als solche immer mal Schulklassen. Sie werden dafür gebucht – oft für vier Stunden, oft im Zusammenhang mit dem Sexualkunde-Unterricht. In ihrer Beratung geht es um alle Fragen rund um die Sexualität.

Nackte oder halbnacke Menschen in der Werbung, freier Zugang zu jeder Menge „Informationsmaterial“ und Pornos über das Internet – wie sexualisiert ist die Jugend heute?

Leyla Demirkaya: Das ist je nach Alter sehr unterschiedlich, und auch innerhalb der Altersgruppen sehr individuell. Wir gehen in alle Schulformen, und beraten meist in den Klassen 5 bis 9. Da gibt es große Unterschiede.

Melanie Schwirz: Jedenfalls erleben die meisten Heranwachsenden noch immer zwischen 15 und 17 Jahren ihr erstes Mal. Obwohl das Thema so präsent ist, führt das nicht dazu, dass die Erfahrungen früher gemacht werden. Was mir auffällt, ist, dass die Kinder offener sind als noch vor 17 Jahren, als ich angefangen habe mit den Beratungen.

Lesen Sie auch:

Wie stehen denn die Pubertierenden zur Sexualität?

Leyla Demirkaya: Die Frage ist oft, wie in der Familie mit dem Thema umgegangen wird. Die Jüngeren sind meist noch sehr still, während die Älteren schon offener sprechen können. Gekichert wird natürlich trotzdem noch – das ist auch völlig ok, das gehört dazu. Eine gewisse Ernsthaftigkeit gehört aber auch dazu.

Melanie Schwirz: Dazu muss man sagen: Unser Angebot ist total freiwillig. Wer sich nicht wohl fühlt, über Sexualität zu sprechen, kann jederzeit gehen. Und: Eltern und Lehrkräfte bleiben draußen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung veröffentlichte 2020 eine Studie zur Jugendsexualität – und trat damit Annahmen entgegen, Jugendliche seien immer früher aktiv.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung veröffentlichte 2020 eine Studie zur Jugendsexualität – und trat damit Annahmen entgegen, Jugendliche seien immer früher aktiv. © Jürgen Runo

Leyla Demirkaya: Interessanterweise beobachten wir, dass der Lernstil der Schulen einen Einfluss auf das Verhalten der Jugendlichen in der Beratung hat. In Schulen, die mehr Wert auf leistungsorientiertes Lernen legen, sind die Schülerinnen und Schüler stiller und zurückhaltender. Wo es um kreative Lösungsansätze geht, oder überhaupt um Kreativität, sind die Jugendlichen viel offener.

Wie läuft denn so eine Beratung überhaupt ab? Wissen die Schülerinnen und Schüler, was da auf sie zukommt?

Melanie Schwirz: Die wissen, was auf sie zukommt: Und sie haben vorab die Möglichkeit, anonym Fragen zu stellen. Die schicken sie uns zu, und wir behandeln sie in der Beratung. Es soll wirklich ein sicherer Raum sein für die Jugendlichen, in dem alle Fragen erlaubt sind und niemand ausgeschlossen wird. Wir teilen uns übrigens auf: Ich übernehme die Jungs.

Leyla Demirkaya: Und ich berate die Mädchen. Das ermöglicht uns, geschlechtsspezifische Themen anzusprechen. Und die Schülerinnen und Schüler sind dann mehr unter sich und weniger in Konkurrenz zu dem anderen Geschlecht.

Und wenn sich ein Kind weder dem einen oder dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt? Oder transsexuell ist?

Leyla Demirkaya: Wir hatten auch so einen Fall schon: Dann kann das Kind sich selbst aussuchen, in welcher Gruppe es sein will.

Wie präsent ist das Thema Transsexualität – oder überhaupt, sagen wir mal, Queerness – unter den Kindern?

Leyla Demirkaya: Die Themen rund um LGBTQIA+ sind bei vielen schon bekannt. Manchmal gibt es auch ein, zwei Heranwachsende, die sich schon intensiver damit auseinander gesetzt haben. Das ist viel mehr Thema heute also noch vor zehn, fünfzehn Jahren. Dadurch, dass das Thema in den Medien und in der Gesellschaft insgesamt so präsent ist und offen besprochen wird, spüren die Kinder mehr Rückhalt. Sie wissen, dass es sowas gibt, dass darüber gesprochen wird. Es gibt zwar auch diskriminierende Erfahrungen unter den Jugendlichen, aber insgesamt mehr Verständnis und mehr Offenheit.

Melanie Schwirz: Homophobie zum Beispiel ist aber immer noch da. Ich habe den Eindruck, dass das etwas mit den unsicheren Zeiten zu tun hat, in denen wir leben. Die Unsicherheit, die wir 2023 durch die vielen Krisen unserer Zeit empfinden, führt bei manchen Kindern dazu, dass sie in vermeintlich sichere, alte Strukturen zurückkehren.

Worum geht es in der eigentlichen Beratung?

Dass Jugendliche heute früher sexuell aktiv werden, weil Sexualität in der Öffentlichkeit so präsent ist, sei ein Mythos, sagen die Beraterinnen – das bestätigt auch eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Dass Jugendliche heute früher sexuell aktiv werden, weil Sexualität in der Öffentlichkeit so präsent ist, sei ein Mythos, sagen die Beraterinnen – das bestätigt auch eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. © imago | Ute Grabowsky

Melanie Schwirz: Bei den Jungs erzähle ich am Anfang einiges. Wahrscheinlich würde die Beratung anders laufen, wenn ich ein Mann wäre, deshalb fange ich selbst damit an, zum Beispiel über Pornos, Penisgrößen oder Masturbation zu reden. Wir tasten uns natürlich langsam da ran, es soll keiner verschreckt werden. Wichtig ist mir dann, den Kindern zu vermitteln – denn ganz viele haben ja auch im jungen Alter schon Pornos gesehen, das ist normal –, dass das keine Lehrfilme sind, sondern Filme, die für Erwachsene gemacht und deshalb erst ab 18 sind.

Und kommt das an?

Melanie Schwirz: Nun ja – ja, es kommt an, aber es sind nun mal die Vorlagen, die die Heranwachsenden haben. Früher reichte man sich Pornoheftchen herum, heute schaut man Pornos im Internet. Wichtig ist, dass die Heranwachsenden verstehen, dass echter Sex nicht so läuft.

Wie gehen Sie bei den Mädchen vor?

Leyla Demirkaya: Da sprechen wir viel über die Periode, den Zyklus, aber auch über Masturbation und die weibliche Sexualität. Mir ist wichtig, dass die Mädchen ihren Zyklus nicht als etwas lästiges erleben, sondern ihn wertschätzen. Ohne den Zyklus wäre der Fortbestand unserer Art nicht möglich, das ist etwas wunderbares. Die Periode führt uns vor Augen, was unser Körper im Stande ist, zu leisten. Das hat alles seinen Sinn – und ist nichts Schmutziges.

Als ich in der Pubertät war, sah man noch mit einem ziemlich männlich geprägten Blick auf Sexualität. Auch heute wird der weibliche, nicht der männliche Körper, oft als Sinnbild für Lust und Liebe verwendet. Wie sehen das die Heranwachsenden?

Melanie Schwirz: Es stimmt schon, dass Männer da noch immer oft sichtbarer sind. Schon alleine wegen des äußerlich sichtbaren Geschlechtsteils. Ich habe aber das Gefühl, dass da gesellschaftlich einiges im Wandel ist. Es gibt immer mehr Frauen, die sich aktiv mit ihrer Sexualität auseinander setzen und das wird auch breiter diskutiert.

Leyla Demirkaya: Wenn wir kurz über die Erwachsenen sprechen: Zum Beispiel wird es normaler, dass sich Freundinnen über eine Geburt und Geburtsverletzungen austauschen. Es gibt auch Frauengruppen, die sich treffen, um gemeinsam unter Anleitung zum Höhepunkt zu kommen. Oder die zusammen im Spiegel ihre Vulvas betrachten und kennenlernen. Was die Kinder betrifft, thematisieren wir in der Beratung: Es ist für beide Geschlechter wichtig, den eigenen Körper zu kennen. Genauso wie wir beide Geschlechter über Verhütung aufklären.

Ein Thema, das Lehrkräften und Eltern wahrscheinlich besonders am Herzen liegt...

Melanie Schwirz: ...und das oft noch in der Verantwortung der Frauen verortet wird. Deshalb sage ich in meinen Jungsgruppen ganz klar: Das Kondom ist noch immer die einzige Verhütungsmethode für Männer. Zum Sex gehören immer Zwei. Wenn aber die Frau schwanger wird, entscheidet sie am Ende alleine, ob sie das Kind behält oder nicht. Die Entscheidung trifft die Frau. Verhütung betrifft beide Partner, immer. Auch wegen der möglichen Übertragung von Geschlechtskrankheiten.

Kommen wir auf die Fragen der Jugendlichen zurück. Lassen Sie uns ein paar davon diskutieren. Fangen wir an mit einer Frage der Jungs: Gibt es zu viel Selbstbefriedigung?

Melanie Schwirz: Als erstes sage ich den Jungs: Selbstbefriedigung ist völlig normal. Ihr könnt erst mal davon ausgehen, dass das jeder Erwachsene macht. Egal ob Frau oder Mann, Partner oder kein Partner, jung oder alt. Es spricht nur halt niemand darüber, oder selten. Solange nichts weh tut oder das Denken dauerhaft von dem Thema bestimmt wird, ist alles in Ordnung.

Lesen Sie auch:

Leyla Demirkaya: Es ist auch wichtig zu schauen, warum wir überhaupt masturbieren.

Und?

Melanie Schwirz: Manchmal ist der Partner nicht da, manchmal geht es aber auch um Entspannung, Druck abbauen. Es geht darum, seinen eigenen Körper zu spüren, ihn kennen zu lernen.

Leyla Demirkaya: Der Sex alleine ist ganz anders als der Sex zu zweit und steht dazu auch nicht in Konkurrenz. Man will ja auch sonst nicht alles und jedes mit dem Partner zusammen machen; und wer sich selbst liebt, lernt seine eigenen Bedürfnisse kennen.

Gut, gehen wir zu einer Frage der Mädchen über. Wann ist Sex Sex?

Leyla Demirkaya: Eine gute Frage. Jedenfalls ist Sex nicht nur penetrativer Sex.

Melanie Schwirz: Und auch, einen Höhepunkt zu erleben, ist nicht ausschlaggebend.

Da stelle ich mir die Jugendlichen jetzt verwirrt vor.

Melanie Schwirz: Naja, die Übergänge sind fließend. Genauso wie bei der Frage: Woher weiß ich, ob ich auf jemanden stehe? Wir versuchen dann, die Erfahrungen der Jugendlichen einzusammeln und daran zu zeigen, wie breit das Spektrum ist. Meine beste Freundin habe ich auch lieb, ich will sie in den Arm nehmen und viel Zeit mit ihr verbringen. Wenn es aber um sexuelle Anziehung geht, kommt noch mal eine andere Intensität dazu, die Schmetterlinge im Bauch, der Wunsch nach Berührung. Dann geht es in die Sexualität über. Wann jetzt Sex Sex ist, muss am Ende jeder selbst für sich beantworten, es spielt vielleicht auch eine Rolle, in welchem Kontext diese Frage wichtig ist.

Nehmen wir zum Schluss die Rolle der Eltern ein. Wir geht man mit der Sexualität der Kinder um? Die zeigt sich ja erwiesenermaßen nicht erst in der Pubertät.

Melanie Schwirz: Ja, wobei es da oft erst mal um Begrifflichkeiten geht. Wie die Kinder ihre eigene Sexualität erleben, kommt stark auf den elterlichen Umgang damit an. Wen die Eltern schon früh die Nase rümpfen beim großen Geschäft in der Windel – ja, auch das gehört schon dazu –, oder das Kind daran hindern, sich zwischen den Beinen anzufassen, kann das zu Hemmungen führen. Eltern sollten ihre Kinder am besten erst mal Ernst nehmen. Und es gibt auch viele Kinderbücher, die sich mit dem Thema auseinander setzen.