St. Andreasberg. Um die Wildnis als Lernort ging es beim Wildnisforum Nationalpark Harz 2023. Zu Bildungszwecken genügt es, Natur subjektiv als wild zu empfinden.

Das zweitägige Treffen von Wildnisbildungsexperten und Nationalpark-Vertretern aus anderen Regionen Deutschlands im Haus Sonnenberg bei St. Andreasberg, nach mehrjähriger Unterbrechung erstmals wieder in Präsenzform abgehalten, sollte eine Standortbestimmung sein. Seit zehn Jahren existiert das Projekt „Wildnis macht stark – Neue Ansätze der Wildnisbildung in deutschen Nationalparken am Beispiel des Nationalparks Harz“. Das Projekt umfasst Qualifizierungskurse für pädagogisches Personal wie Erzieher, Studenten der Sozialpädagogik, Lehramtsstudenten und Jugendleiter.

Warum braucht der Mensch das Wildnis-Erleben und welchen Beitrag kann es leisten für eine Bildung, die nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt ihres Kanons rückt? Um diese Fragen kreisten die Vorträge und Workshops. Schnell wurde deutlich, dass es für eine Bildungsarbeit hierzulande keine Wildnis braucht, die lebensbedrohliche Züge hat wie zum Beispiel in Jon Krakauers Weltbestseller „In die Wildnis“. Krakauer erzählt darin die wahre Geschichte des 24-jährigen Aussteigers Chris McCandless, der sich 1992 in die Einsamkeit Alaskas zurückzog, um im Einklang mit der Natur zu leben. Nach 112 Tagen starb er dort einen einsamen Hungertod.

Jens Halves vom Nationalpark-Besucherzentrum Torfhaus war maßgeblich beteiligt an der Planung des Wildnisforums. 
Jens Halves vom Nationalpark-Besucherzentrum Torfhaus war maßgeblich beteiligt an der Planung des Wildnisforums.  © Michael Strohmann | Michael Strohmann

Von einer solchen Wildnis fernab der Zivilisation kann im Harz keine Rede sein. Jedoch wirke das Wilde in der Natur „immer und überall“, legte Dr. Berthold Langenhorst, Geschäftsführer Kommunikation beim NABU- Landesverband Hessen, in seinem Vortrag dar. Aufgabe der Wildnisbildung sei es, anhand des originären Erlebens konkreter Phänomene „verwildernder Natur“ zum Nachdenken über das Verhältnis von Mensch und Natur anzuregen

Die Begegnung mit verwildernder Natur ist allemal möglich im Nationalpark Harz. Schließlich verfügt er über große Flächen, die durch Betretungsverbote geschützt sind und auf denen die Natur sich selbst überlassen bleibt - ohne ein vom Menschen gesteuertes Zurück zum „Ur-“Zustand. Orte, an denen das Wilde in der Natur erfahrbar ist. Im Sinne eines so verstandenen Wildnisbegriffs kann dort Wildnisbildung stattfinden.

Langenhorst listete Bildungsaspekte im Wildnis-Kontext auf, darunter die individuelle Auseinandersetzung mit dem kulturellen Konzept von „Wildnis“ als Ergänzung zur modernen Zivilisation. Von Bedeutung sei ferner das eingehende Nachdenken über Sinnfragen mit dem Blick auf den eigenen Lebensstil und die Begrenzung eigener materieller Ansprüche. Das intensive Erleben von verwildernder, „eigensinniger“ Natur trage dazu bei, ein realistisches Naturverständnis sowie Naturvertrautheit zu entwickeln.

Jens Halves und Sebastian Berbalk vom Besucherzentrum des Nationalparks Harz in Torfhaus hatten zuvor auf „10 Jahre Wildnisbildung im Harz“ zurückgeblickt. Die habe zunächst auf Wildniscamps gesetzt, in denen Kinder und Jugendliche mehrere Tage verbrachten. Nach einiger Zeit jedoch sei die Frage aufgetaucht, ob ein Camp mit überdachtem Lagerfeuer, an dem man der Umgebung eher den Rücken zukehre, nicht zu viel der Inszenierung sei und für eine Abschottung gegenüber der Natur sorge?

Aufgabe für die Teilnehmer am Workshop „Einen Tag Wilder“: Ein leeres Blatt Papier mit Wildnis zu füllen. 
Aufgabe für die Teilnehmer am Workshop „Einen Tag Wilder“: Ein leeres Blatt Papier mit Wildnis zu füllen.  © Michael Strohmann | Michael Strohmann

In der Folge sei man mit den Wildnisbildungsangeboten „hoch in die Bergwälder und Moore gezogen“, berichteten Halves und Berbalk. Und die Camps seien improvisiert worden. Eine wichtige Erkenntnis der beiden Experten aus ihrer Bildungsarbeit mit jungen Menschen: Wildnis ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Das stelle sich zum Beispiel ein, wenn man im Oberharz plötzlich Wolfsgeheul höre. Was schon vorgekommen sei.

Ob ein Lernort als wild empfunden wird, hängt von den persönlichen Eingangsvoraussetzungen ab. Wer die meiste Zeit in der Komfortzone mit allen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten der digitalen Welt verbringt, der rutscht womöglich schon in die Panikzone, wenn man ihm oder ihr für zwei, drei Tage das Smartphone wegnimmt.

Im Workshop „Einen Tag Wilder“ mit Malin Herke von der Katholischen Universität Eichstätt wurde deutlich, dass Wildnisbildung schon funktionieren kann, wenn bei Teilnehmern Irritation hervorgerufen wird und sie Alltagspfade verlassen müssen. Das kann gipfeln in das Gefühl, einer Situation ausgesetzt zu sein, ohne sie „auf Knopfdruck“ verlassen zu können.

Wildnisbildung als eine Strömung innerhalb der Bildung für nachhaltige Entwicklung griff Prof. Dr. Anne-Kathrin Lindau von der Martin-Luther-Universität Halle auf. Sie sah noch Defizite bei den Konzepten. „Wildnisbildung braucht eine weitere Ausschärfung“, forderte sie – und schob hinterher: „Wir wissen zu wenig über die Wirksamkeit von Wildnisbildung.“ Was die Frage einschließt, ob und wann die Bildungsarbeit bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu Veränderungen im Denken und Handeln führt und wie zielgerichtet sie unter dem Aspekt inhaltlicher Neutralität überhaupt sein darf?

Impulse und Anknüpfungen zur Wildnisbildung zu geben und Bildungsakteure zu vernetzen, dieses Ziel habe die Tagung erreicht, bilanzierten Jens Halves und Sebastian Berbalk vom Besucherzentrum Torfhaus. Wildnisbildung könne als Grundstein oder Türöffner auch in Tagesveranstaltungen behandelt werden, getreu dem Motto: „Aus Wildnis erleben wird Wildnisbildung“. Wildnisbildung sei dabei als eine Reise zu verstehen, die niemals ende, so Halves und Berbalk.

Der Transfer der Wildnisbildung aus dem exklusiven Schutzgebiet (Nationalpark) in die Köpfe der Menschen nehme man als Auftrag mit, um der Wildnisbildung mehr Relevanz zu verleihen. Als ein wichtiges Thema sei die Naturentfremdung bei Kindern angesprochen worden. Eine Möglichkeit, naturfern aufwachsende Kinder zu erreichen, könnten „Wildnisse“ mitten in der Stadt sein, auf Flächen, auf denen sich die Natur frei entwickele.

„Wildnisbildung ist dynamisch und zieloffen“, so fassen Halves und Berbalk die aktuelle Situation zusammen. Was auch bedeutet: Manches ist noch nicht fertig, manches noch unscharf und es besteht Bedarf an wissenschaftlicher Begleitung und Fundierung. Aber dieser Ansatz könnte helfen, Menschen den Wert einer nachhaltigen Lebensführung bewusst zu machen.

In unserem „Draußen“-Podcast haben wir 2021 ein Interview mit dem renommierten Wildnisexperten Gerhard Trommer aus Flechtorf geführt, der oft mit Studenten Wildnisexkursionen unternommen hat. Hier geht es direkt zu der Podcast-Folge:

https://www.braunschweiger-zeitung.de/podcast/draussen/article232934645/Draussen-Podcast-Gerhard-Trommers-Wildnis-Exkursionen.html