Braunschweig. Jürgen Manemann hofft, dass viele aus der Corona-Krise lernen. Es reiche nicht aus, für Pflegekräfte zu klatschen.

Muss man es aushalten, wenn Corona-Leugner auf Demos tanzen und schunkeln? Ist es unmoralisch, wenn gerade jetzt Superreiche noch reicher werden? Professor Jürgen Manemann, Leiter des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, gibt Antworten.

Prof. Dr. Jürgen Manemann, Leiter des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.
Prof. Dr. Jürgen Manemann, Leiter des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover. © Privat

Herr Professor Manemann, welchen Reim machen Sie sich als Philosoph auf die Corona-Pandemie?

Ich bin zunächst einmal erstaunt. Das Virus hat einschneidende Maßnahmen notwendig gemacht, um das Leben von vielen Menschen nicht zu gefährden. Hätte man mich vor der Pandemie gefragt, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass so viele Menschen diese tiefgreifenden staatlichen Eingriffe aus Einsicht in ihre Notwendigkeit akzeptieren würden. Und die Menschen halten das nun schon seit vielen Monaten durch. Das finde ich sehr erstaunlich. Das sollten wir uns gerade jetzt vor Augen halten.

Wie macht sich diese Leistung denn für Sie bemerkbar?

Ich bin viel mit der Bahn unterwegs. Dort tragen die allermeisten Fahrgäste mit großer Selbstverständlichkeit Maske und achten auch auf Abstände. Ähnliche Erfahrungen mache ich beim Einkaufen. Diese Achtsamkeit und Rücksichtnahme zeigt: In unserer Gesellschaft steckt mehr Potenzial, als ich vorher gedacht hätte.

Wir haben auch Gegner dieser zum Teil sehr umfassenden Corona-Regeln. Die einen reden von Covidioten, wenn sie diese Kritiker meinen. Andere sprechen in Anlehnung an die Nazis mit Blick auf das Infektionsschutzgesetz vom Ermächtigungsgesetz. Gefühlt treibt die Corona-Pandemie die Gesellschaft also auch ein Stück weit auseinander, oder?

Protest gehört zur Demokratie. Demokratie heißt auch, nein sagen zu können. Zu Beginn der Pandemie habe ich solche Proteste besucht, um mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen. Zu der Zeit habe ich noch gute Gespräche geführt. Es wurde auch auf Abstand geachtet. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, haben nicht behauptet: Corona gibt es nicht. Sie fanden die Maßnahmen aber falsch.

Die Lage hat sich verschärft, wenn man an die Demos und Ausschreitungen in Berlin, Leipzig, Stuttgart und erneut Berlin denkt.

Ja, es ist schon verrückt, mit anzusehen, wie in sehr kurzer Zeit eine Radikalisierung stattgefunden hat. Es ist den Verschwörungsideologen tatsächlich gelungen, die Leerstelle, die Unsicherheit und Ungewissheit bei Menschen geschaffen hat, zu besetzen. Jetzt sind Diskussionen kaum noch möglich, Teilnehmer:innen dieser Demos leugnen nun auch die Existenz des Virus. Zugleich legen sie eine Aggressivität Andersdenkenden gegenüber an den Tag, die erschreckend ist.

Was denken Sie denn, wenn Sie Bilder von Corona-Demos wie aus Leipzig sehen, auf denen die Teilnehmer ohne Maske schunkeln und tanzen?

Das ist eine infantile Rücksichtslosigkeit.

Muss man das im Sinne der Toleranz aushalten?

Nein! Toleranz bedeutet, dass ich eine andere Meinung, die ich für falsch halte, trotzdem respektiere. Toleranz ist eine Haltung, die uns allen viel abverlangt. Toleranz kennt aber Grenzen, etwa dann, wenn andere Menschen durch eine Meinung gefährdet werden. Wer Rassismus, Antisemitismus, Sexismus etc. duldet, praktiziert keine Toleranz, sondern verrät Toleranz. Wer bei den Corona-Demonstrationen keine Maske trägt und keinen Abstand hält, gefährdet bewusst andere Menschen. Toleranz kann das nicht tolerieren.

Die Pandemie lockt Trickbetrüger auf den Plan. Betrüger geben sich als falsche Corona-Tester aus oder behaupten, Geld für einen Test oder eine Behandlung zu benötigen. Ruft eine Krise das Schlechte im Menschen hervor?

Betrüger:innen gab es auch schon vorher. Wir kennen den Enkeltrick oder die Masche mit den falschen Polizist:innen. In beiden Fällen haben die Täter:innen sich mit solchen Tricks das Geld älterer Menschen erschlichen. Die Betrüger:innen haben diese Masche nun an die Corona-Krise angepasst. Ich kann aber zurzeit nicht erkennen, dass diese Krise das Schlechte im Menschen hervorruft. Im Gegenteil, es gibt Achtsamkeit, Rücksichtnahme und Solidarität. Eins aber scheint sicher: Einbrüche haben deutlich abgenommen.

Weil die Leute mehr zu Hause sind und die Einbrecher abschrecken.

Das könnte ein Grund sein. Mir ist nicht bekannt, dass die Pandemie zu einer Zunahme der Kriminalität geführt hat. Es gibt aber eine Zunahme seelischer und psychischer Störungen mit steigender Tendenz. Diese Störungen wurden allerdings nicht durch die Corona-Krise verursacht, sondern existierten schon vorher. Sie werden aber durch die Krise massiv verstärkt.

Andererseits geschieht gerade ja auch viel Positives, was zum Beispiel einer Vereinsamung der Leute entgegenwirkt. Nachbarn helfen einander, manch einer erledigt den Einkauf für Ältere. Und auch die Leistung von Pflegern und Ärzten ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Richtig. Und dieses Engagement von Pfleger:innen und Ärzt:innen muss gewürdigt werden. Es reicht nicht aus zu klatschen. Es kommt darauf an, Sorgearbeit insgesamt auf allen Ebenen aufzuwerten, auch finanziell.

Sie meinen die Bundestagsabgeordneten, die während des ersten Lockdowns aufgestanden sind, um zu klatschen?

Ja, das ist alles in Ordnung. Ich will diese Art des Respekts auch gar nicht schlecht reden. Das war für den Moment sicherlich wichtig. Aber solche Zeichen laufen immer Gefahr, im Nachhinein zur Farce zu werden, wenn daraus keine Taten folgen. Deshalb ist es wichtig, dass Pflegekräfte im öffentlichen Dienst 8,7 Prozent mehr Lohn bis Ende 2022 bekommen. Sorgearbeit – ich spreche lieber von Sorgearbeit als von Pflegearbeit, weil das noch mehr umfasst – muss viel stärker in den Blick genommen, mehr anerkannt und auch besser entlohnt werden. Wir sind alle durch das Virus in Sorge geraten – um unsere Mitmenschen, unsere Angehörigen, um uns selbst. Wir sollten auch nach der Krise in Sorge bleiben. Von der Sorge ausgehend, wäre unser Zusammenleben neu zu denken. Wir Älteren sollten uns mehr Sorgen um junge Menschen machen. Viele junge Menschen treibt nämlich die Sorge um, dass es eine Nach-Corona-Zeit geben könnte, in der wir mit Schrecken feststellen, dass sich die Gesellschaft und die Politik nicht verändert haben.

Wie meinen Sie das?

Viele Menschen wünschen sich, wie sie sagen, die „alte Normalität“ zurück. Der Zustand vor der Corona-Krise war aber alles andere als normal. Es war kein guter Zustand. Wir hatten schon vor Corona eine Bildungs- und Vermögensungerechtigkeit, und wir steckten auch schon vor der Pandemie in der Klimakrise. All das ist durch die Corona-Krise ja nicht verschwunden, sondern wird noch verstärkt. Es kommt jetzt darauf an, neue Wege einzuschlagen. Wir brauchen eine Haltung des In-Sorge-Seins um andere und vor allem des In-Sorge-Seins um die Erde. Von dieser Sorge ausgehend, wären Politik, Gesellschaft und Ökonomie neu zu denken. Es geht also um ein tätiges In-Sorge-Sein, nicht um ein passives In-Sorge-Bleiben.

Die Auswirkungen gehen bisher in eine ganz andere Richtung. Superreiche wie der Amazon-Chef Jeff Bezos oder die BMW-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt wurden durch die Krise noch einmal reicher. Ist das unmoralisch?

(Er überlegt lange) Geld zu verdienen und reich zu sein, ist erst einmal nicht unmoralisch. Es ist dann unmoralisch, wenn der Reichtum auf Kosten anderer erwirtschaftet wurde. Das ist ethisch verwerflich.

Und wie ist es in diesen beiden konkreten Fällen?

Ein Konzern wie Amazon hat sowieso schon Arbeitsbedingungen, die ethisch nicht zu rechtfertigen sind. Reichtum ist deshalb ein Problem, weil mit ihm die Einflussmöglichkeiten anwachsen. Er geht mit Machtsteigerung einher. Eigentlich sollte Reichtum „verschwendet“ werden, indem reiche Menschen ihn nicht für sich behalten, sondern andere Menschen daran teilhaben lassen. Denken Sie an den Ausspruch von Andrew Carnegie: „Es ist keine Schande, reich zu werden. Aber schändlich, reich zu sterben.“ Wir brauchen einen neuen Blick auf unsere Verhältnisse: Ich schlage vor, von der Sorgearbeit her Wirtschaft neu zu denken.

Können Sie das erläutern?

Die Bedingungen der Erwerbsarbeit dürfen die Voraussetzungen für Sorgearbeit nicht zerstören. Wenn wir von der Sorgearbeit her Wirtschaft neu denken, betrachten wir große Unternehmen als Teil der Gesellschaft. Dazu müsste die Ökonomie jedoch in die Gesellschaft eingebunden werden. Unternehmen würden sich dann als zivilgesellschaftliche Akteure begreifen und an sich den Anspruch stellen, dem Gemeinwohl zu dienen.

Macht die Krise uns langfristig zu besseren Menschen, weil wir uns wieder mehr auf das Wesentliche konzentrieren?

Das können wir zurzeit noch nicht beantworten. Zu Beginn der Corona-Krise, als die Geschäfte plötzlich geschlossen waren, waren viele Menschen verwirrt. Das Konsumieren war eingeschränkt. Manchen fiel es schwer, den Tag sinnvoll zu füllen. Einige Menschen haben jedoch plötzlich gemerkt, dass es auch anders geht, dass sie sich des Konsum-Zwangs entledigen können. Es könnte sein, dass mehr Menschen anfangen zu fragen, was ihre echten Bedürfnisse sind. Wir könnten also freiere und bessere Menschen werden.

Andererseits darf man natürlich nicht ausklammern, dass Kneipiers und Kulturschaffende Existenzängste haben, auch anderen droht Jobverlust. Wie kann man ihnen helfen?

Wir brauchen Nahrungsgüter, eine medizinische Grundversorgung und andere Güter zum Überleben. Zum guten Leben benötigen wir aber vor allem auch Kunst und Kultur. Diese erschaffen Räume, die uns andere Perspektiven und andere Horizonte eröffnen. Auch Restaurants, Kneipen und Cafés machen das Leben lebenswerter. Wir sollten für die jetzige Krise und auch für andere Krisen ein temporäres Grundeinkommen einführen. Den Menschen, die von heute auf morgen nicht mehr arbeiten können, würden wir so die Angst vor einem sozialen Niedergang nehmen.

Zuletzt wurden die Nachrichten wieder besser. Die Tage des US-Präsidenten Donald Trump sind gezählt, ein Impfstoff ist bald verfügbar. Geht es bergauf?

Wir sollten meines Erachtens eher in Wellenbewegungen denken. Der Impfstoff wird nicht von heute auf morgen unsere Probleme lösen, allein schon deshalb nicht, weil wir ja nicht von heute auf morgen alle geimpft sein werden. Der Impfstoff ist aber ein Licht am Ende des Tunnels. Vielen war vor der Krise nicht klar, dass auch sie verwundbare Lebewesen sind. Diese Erkenntnis wird hoffentlich auch nach der Pandemie bleiben. Verwundbarkeit ist die Voraussetzung für Tapferkeit. Wer tapfer ist, vermag Situationen auszuhalten. Vor allem viele Kinder und Jugendliche sind derzeit sehr tapfer. Wir brauchen aber auch Mut, denn wir dürfen den gegenwärtigen Zustand nicht nur erdulden, sondern müssen an das denken, was kommen könnte, um dringende Veränderungen jetzt schon in Gang zu setzen – denken Sie nur an die Klimakrise! Ob es bergauf geht, hängt von unserem Mut zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen ab.

Wie lautet Ihre kurze und knappe Devise für die nächste Zeit?

Bleib’ in Sorge! Die Sorge ist die Kraft, die uns an andere Menschen bindet. Und all das, was uns mit anderen Menschen verbindet, gibt uns Stabilität.