Berlin/Moskau. Wladimir Putin hat die demokratische Opposition zerschlagen. Seine wichtigsten Gegner sind im Gefängnis oder im Exil. Wer sind sie?

Schneebälle prasseln auf die schweren Helme der Sonderpolizisten. Die berüchtigten Omon-Kämpfer greifen zu ihren Schlagstöcken. Doch dann ziehen sie sich zurück. Auf dem Moskauer Puschkin-Platz bricht Jubel aus.

Die meist jungen Menschen ahnen nicht, dass dies für lange Zeit der letzte kleine Triumph sein wird. Sie glauben an diesem Samstag im Januar 2021 noch, dass sie etwas bewirken können. Dass Alexej Nawalny, gegen dessen Verhaftung sie protestieren, zur Symbolfigur eines russischen Frühlings werden kann. Mitten im Winter gehen im ganzen Land Zehntausende auf die Straße, in Sibirien bei Temperaturen von minus 40 Grad. Doch die wahre Eiszeit in Russland beginnt an diesem Tag erst.

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Der Krieg gegen die Ukraine hat Russland zu einem anderen Land gemacht

Ein Moskauer Gericht verurteilt Nawalny im Eilverfahren. Es schickt den wichtigsten Gegner von Präsident Wladimir Putin für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, weil er sich den Behörden entzogen haben soll. Zweieinhalb Jahre – davon kann Wladimir Kara-Mursa nur träumen. Im April 2023 greift die kremltreue Justiz zu ganz anderen Strafen.

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Kara-Mursa muss für 25 Jahre ins Lager. Wegen Hochverrats. Der Oppositionspolitiker soll Falschinformationen über die Armee verbreitet haben, die in der Ukraine Krieg führt. Seit der Invasion ist Putins Russland noch einmal zu einem anderen Land geworden. Kremlkritiker sprechen von "Neostalinismus".

Das mag angesichts von Millionen Toten im sowjetischen Gulag übertrieben sein. Aber die Fälle von Nawalny und Kara-Mursa belegen doch eine dramatische Eskalation. Der Polizeistaat und die politische Justiz schlagen immer gnadenloser zu.

Russland: Sorgen um Nawalny und Kara-Mursa wachsen

Bei Nawalny haben die Gerichte längst nachgelegt. Aktuell beläuft sich sein Strafmaß auf neun Jahre, aber immer neue Verfahren kommen hinzu. Haft bis 2051 ist möglich. Damit würde er Kara-Mursa wieder überholen. Allerdings zweifeln Vertraute der beiden Männer, dass sie die kommenden Jahre durchstehen können. Obwohl Kara-Mursa erst 41 Jahre alt ist, Nawalny 46. Aber beide haben Giftanschläge überlebt, mutmaßlich verübt vom Geheimdienst FSB. Sie leiden schwer unter den Folgen, sind abgemagert und wirken hinfällig.

Wurde zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt: Wladimir Kara-Mursa. Er wollte seine Heimat nicht verlassen.
Wurde zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt: Wladimir Kara-Mursa. Er wollte seine Heimat nicht verlassen. © AFP | NATALIA KOLESNIKOVA

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Dennoch haben sich beide bewusst in die Fänge "dieses mörderischen Regimes" begeben, von dem Kara-Mursa spricht. Ein russischer Politiker gehöre nach Russland, sagt er, und so sieht es auch Nawalny. Die beiden stehen damit für die eine "Schule" in der Opposition. Sie setzen auf das, was man den Mandela-Effekt nennen könnte. Nelson Mandela, der legendäre Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, saß 27 Jahre in Haft, bevor er freikam und zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde.

So lange soll die Eiszeit in Russland nicht dauern: "Wir wissen, dass solche Regime schnell enden können", sagt Kara-Mursa. Die Gewalt zeuge in erster Linie von Angst und sei ein Zeichen der Schwäche. Kein Regime währt ewig.

Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde gleich nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland festgenommen und sitzt seitdem im Gefängnis.
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde gleich nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland festgenommen und sitzt seitdem im Gefängnis. © dpa | Alexander Zemlianichenko

"Um die existenzielle Angst dreht sich in Russland derzeit alles"

Hinter diesen Überlegungen steht die Idee eines Martyriums. Folter erdulden, um die Achtung der Menschen zu gewinnen. Um Russland nach Putins Niedergang in eine lichte Zukunft führen zu können. Das ist der Plan, dessen Verwirklichung aber von äußeren Faktoren abhängt. Von einer Niederlage im Krieg zum Beispiel, vom Crash der Wirtschaft oder von Machtkämpfen im Kreml.

All das ist möglich, aber ist es auch wahrscheinlich? Sicher scheint derzeit nur, dass sich die Menschen in Russland so bald nicht massenhaft gegen die Putin-Herrschaft erheben werden. Umfragen zeigen eine Zustimmung zum Regime von mehr als 70 Prozent. Die Werte mögen nicht sehr zuverlässig sein. Aber Fachleute zweifeln nicht an dem stabilen Trend.

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Entscheidend ist dabei die Angst. "Um die existenzielle Angst dreht sich in Russland derzeit alles", erklärt der Moskauer Soziologe Grigori Judin. Da sind die prügelnden Omon-Polizisten und die drakonisch verschärften Gesetze, die in Schauprozessen wie im Fall Kara-Mursa exekutiert werden.

Nicht zuletzt fehlt in Russland auch weiter der Glaube, dass mehr Freiheit ein besseres Leben bewirken kann. Die Erinnerungen an die finsteren 90er Jahre sind noch immer lebendig, als unter dem "demokratischen" Präsidenten Boris Jelzin Mafia- und Oligarchenkämpfe tobten. Die Furcht vor einem Rückfall in die Anarchie können auch Nawalny und Kara-Mursa niemandem nehmen.

Auch Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow gehört zur Anti-Putin-Opposition

Und noch weniger sind dazu jene Putin-Gegner in der Lage, die vom westlichen Exil aus auf den Sturz des Regimes hinarbeiten. Sie bilden die andere Schule der liberalen Opposition, die ein Martyrium in Haft für wenig aussichtsreich hält. Prominente Figuren gehören dazu. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow etwa, der sich früh der Anti-Putin-Opposition anschloss.

Heute lebt er in Kroatien, weil ihm in Russland das Straflager droht. Oder die Germanistin Irina Scherbakowa, die 1989 Mitbegründerin von Memorial war. Die Menschenrechtsorganisation erhielt 2022 den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt mit ihren 74 Jahren in Deutschland, von wo aus sie den "Rückfall in den Stalinismus mit Zorn" beobachtet. Dennoch bleibe Russland ihre Heimat.

Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow und Irina Scherbakowa sind wichtige Stimmen der Opposition. Beide leben im Exil, weil sie in Russland nicht mehr sicher sind.
Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow und Irina Scherbakowa sind wichtige Stimmen der Opposition. Beide leben im Exil, weil sie in Russland nicht mehr sicher sind. © AFP | ODD ANDERSEN

Das sagt auch Kasparow, der überzeugt ist: "Ich werde zurückkehren." Nur wann und unter welchen Bedingungen? Seine größte Hoffnung sei ein Sieg der Ukraine im Krieg, erklärt Kasparow. "Dafür kämpfen wir." Zweifel sind allerdings erlaubt, dass Exil-Westler, die auf eine Niederlage Russlands hinarbeiten, in ihrer patriotisch gestimmten Heimat Gehör finden.